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Bei dem Grundgedanken der Hindukultur, daß kein gesunder Mensch unverheiratet sein dürfe und die Frau ausschließlich der ihr von der Natur verliehenen Bestimmung gerecht zu werden suchen müsse, worunter auch die Sorge für die Erhaltung des Gatten in dem denkbar leistungsfähigsten Zustand begriffen wird, und solange das Pördasystem nicht völlig fällt, scheint es für die Hindus kaum möglich, günstigere Eheresultate zu erzielen, als durch die dort jetzt übliche edlere Form einer Zuchtwahl. Im übrigen ist durch eine überaus leicht erreichbare Ehescheidung dafür gesorgt, daß unglückliche Ehen nicht zu bestehen brauchen, bezeichnenderweise wird diese Freiheit aber auffallend wenig in Anspruch genommen, ein Beleg mehr für die im ganzen überaus verträgliche Gutmütigkeit der Hindus; brutale Gatten werden unter ihnen aber gewiß ebensowenig ganz fehlen, wie unter anderen Völkern.

Es ist hier nicht der Platz, die Gedanken zu erörtern, die sich jeder Vaterlandsfreund über die schreckenerregende Entartung und den Verfall unserer eigenen Rasse und über die Wege machen muß, die zu einer Genesung und Wiedergeburt unserer Kulturmenschheit führen könnten. Das trostlose Bild unserer gegenwärtigen sozialen Zustände, die in unserer natur- und gesundheitswidrigen, nervenzerstörenden Lebensweise und nicht zum wenigsten in einem verderbten Geschlechtsleben ihren Grund haben, habe ich hier nicht zu entrollen. Auf die Erfüllung des utopischen Sehnsuchtstraumes Schopenhauers[WS 1], daß sich nur noch die edelmütigsten, an Körper und Geist gesundesten Männer mit auserlesenen Frauen, unter jauchzenden, neidlosen Glückwünschen der weniger von der Natur Gesegneten, vermählen dürften, um ein edleres Menschengeschlecht zu erzeugen, oder daß zum allerwenigsten auf dem Standesamte von dem jungen Paare neben dem Nachweise der Persönlichkeit eine ärztliche Bescheinigung völliger Gesundheit, sowohl der eigenen wie der elterlichen, verlangt werde, darauf vermag wohl niemand im Ernste zu hoffen; an die erbliche Belastung der Nachkommen wird in alle Ewigkeit weniger gedacht werden als an die Erbschaft. Aber man frage sich doch einmal ganz ernstlich, ob nicht ein indisches Mädchen, die einen noch nicht durch andere weibliche Zärtlichkeiten verwöhnten Gatten empfängt, und ob nicht ein junger Indier, dem von den Seinen mit grenzenloser Sorgfalt eine angemessene Gattin ausgewählt wurde, die dann ganz ausschließlich für ihn und sein häusliches Behagen auferzogen wird, ob solche Gatten ihre Tage nicht vielleicht innerlich glücklicher beschließen, als Leute, die sich nach allerlei „Verhältnissen“ durch die Zeitung oder beim Heiratsvermittler mit einer „passenden Partie“ versorgt haben.

Soweit ich das Leben indischer Frauen zu beobachten vermochte, habe ich nicht den Eindruck gewonnen, daß sie sich in dem engen Pflichtenkreis, der um sie gezogen wird, unglücklich fühlten. Wie oft bin ich im Dunkel der Nacht durch indische Dörfer und Vorstädte vor die offenen Hütten geschlichen, aber stets konnte ich mich weiden an den sich im Scheine des flackernden Herdfeuers abspielenden idyllischen Bildern, an harmlos-ruhigem, heiterem Familienglück,

wobei die Hausfrau durchaus nicht etwa die Rolle einer gequälten Sklavin

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Schopenhauer: vergleiche Arthur Schopenhauer (1788-1860)
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 208. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/270&oldid=- (Version vom 1.7.2018)