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Frauen mit gedörrtem Kuhdünger zur Herstellung des Hochzeits-Freudenfeuers.

Sechzehntes Kapitel.
Hindufrauen und indische Ehen.

Europäer, die in Indien ihren Geschäften nachgehen oder dieses Land nur flüchtig bereist haben, lernen indische Frauen der besseren Stände so gut wie niemals kennen, ganz abgesehen davon, daß der in Indien lebende europäische Geschäftsmann durch Klima und Lebensweise selten noch Lust oder Spannkraft übrig behält, sich um die Eigenheiten des ihn umgebenden Volkes zu bekümmern, und nur wenige haben den Mut, gleich Dr. Hübbe-Schleiden[WS 1], dem ich manche Belehrung verdanke, auf die „Gesellschaft“ zu verzichten, um Indien durch die Indier kennen zu lernen. Auch ich muß gestehen, daß es mir nicht gleich bei meinem ersten Aufenthalt in Indien glückte, Hindufrauen vornehmer Kaste zu sehen und mir ein Urteil über sie zu bilden.

Es gibt eine ganze Anzahl wohlmeinender englischer Reformer und Missionare, männliche und weibliche, deren Streben darauf ausgeht, die Indier zu braunen Europäern oder farbigen Christen zu machen, die aber weder die Gabe noch den guten Willen haben, die indischen Eigentümlichkeiten objektiv zu schauen und zu schildern, sondern die alle indischen Erscheinungen theoretisch nach ihren europäischen Begriffen beurteilen. Derartigen einseitigen Berichten verdankt die zum Teil gewiß nicht unberechtigte Klage über das entsetzliche Los der indischen Frau, über die Brutalität der „Kinderehen“, die unfreiwilligen Witwenverbrennungen und dergleichen seinen Ursprung, und zeigt uns diese Schattenseite der indischen Kultur in etwas gar zu absichtsvoll gefärbtem Lichte; der Hauptgrundsatz dieser Kultur lautet, daß jeder gesunde Hindu die Pflicht hat, verheiratet zu sein, und daß die Eltern bemüht sein sollen, daß dies sobald wie irgend möglich, jedenfalls aber noch bei ihren Lebzeiten geschieht. Was bei uns freier Entschließung und eigener Wahl anheim gegeben

ist, gilt bei den Hindus als eine für alle gleiche Verpflichtung

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Dr. Hübbe-Schleiden: vergleiche Wilhelm Hübbe-Schleiden (1846-1916)
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Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/262&oldid=- (Version vom 1.7.2018)