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Jahre 1900 im Hafen von Kalkutta 55 solche Dampfschiffe verkehrten, während 1897 nur 38 dort gewesen waren. Einer Einfuhr aus Deutschland im Betrage von rund 10 735 000 Mark steht eine Ausfuhr aus Indien nach Deutschland im Werte von rund 84 Millionen Mark gegenüber, über deren Einzelheiten das vom Reichsamt des Inneren herausgegebene „Handelsarchiv“ außerordentlich lehrreiche Daten beibringt, deren Wiedergabe jedoch den Rahmen dieses Werkes überschreiten würde.

Die jährlich und zu Zeiten auch in Kalkutta tagenden indischen Nationalkongresse[WS 1] scheinen nach und nach zu einem für die englisch-indische Regierung recht peinlichen Zugeständnis zu werden, das sie aber den Eingeborenen zu entziehen, nicht mehr die Macht hat. Mit größtem, aber stets sachlich bleibenden Freimut, ohne Erregung oder Gehässigkeit, hält der Kongreß der Regierung ihr Sündenregister vor und scheut sich nicht, offen seine Mißbilligung über ihm unrechtmäßig erscheinende Handlungsweisen auszusprechen; so unterzog der Kongreß die Politik Englands in Bezug auf Birma einer ablehnenden Kritik, setzte die Freilassung der zweiundeinhalbes Jahr lang ohne jede Anklage als „verdächtig“ gefangen gehaltenen Brüder Natu[WS 2] durch und forderte unausgesetzt eine gründlichere Prüfung der Verwaltung Indiens von England. Der Kongreß erklärte auch die Gründe der Verarmung Indiens und die Aussaugung seiner Lebenskräfte durch die von den Indiern getragenen und immer mehr anwachsenden Kosten für das in ihrem Lande von England gehaltene Militär sowie durch die Ausfuhr des indischen Nationalvermögens nach England ohne entsprechende Gegenleistung. Diesen unbequemen Wahrheitssagern wurde bei der letzten Gelegenheit als Antwort nichts anderes als die sehr bezeichnende Abfertigung zu teil: Die Armut Indiens und der Verlust, den es durch Bezahlung von Gehältern, Sinekuren[WS 3] und Pensionen in England erleidet, sind schon so lange das Lieblingsthema feierlicher Reden gewesen, daß es nicht notwendig ist, sie von neuem zu besprechen!

Daß noch viele andere Ursachen mitsprechen, die Indien verarmen lassen, ist keinem Kenner der Verhältnisse unbekannt; vor allem macht es einen großen Unterschied, ob die Kleinbauern, die 7/10 der ganzen Bevölkerung ausmachen, ihre Steuern wie früher in einem Teil ihrer Bodenerzeugnisse oder wie jetzt als Bargeld entrichten müssen. Daß die Bauern dadurch immer mehr eine Beute schamloser Wucherer werden, ist mangels von Agrarbanken kein Wunder. Mit welcher unerbittlichen Strenge aber die Grundsteuer durch die Engländer eingetrieben wird, geht daraus hervor, daß von 1890 bis 1900 allein in der Präsidentschaft Madras nicht weniger als 840 713 Bauernfamilien infolge zwangsweiser Versteigerung ihrer Habe als Bettler davon ziehen mußten, wodurch alsbald eine Million Hektare Ackerland außer Kultur kam! Das Einkommen der Landbevölkerung erreicht jetzt täglich nicht mehr 6 Pfennige auf den Kopf[WS 4], wobei nicht zu vergessen ist, daß der indische Landbau durch die sinkende Viehzucht in Mitleidenschaft gezogen wird. Über den Verfall der

Gewerbe und Kunstindustrien durch den europäischen Wettbewerb und den

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: indischen Nationalkongresse: vergleiche Indische Unabhängigkeitsbewegung, Entstehung des indischen Nationalismus (1885–1905) und des Indischen Nationalkongresses
  2. WS: Brüder Natu: Balasaheb Balwant Ramchandra Natu (1855-1914) und Tatyasaheb Hari Ramchandra Natu
  3. WS: Sinekure: vergleiche Sinekure
  4. WS: entspräche 2018 ca. 39 Cent
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/258&oldid=- (Version vom 1.7.2018)