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Tscheit Singh[WS 1], im Jahre 1780 voraufgingen, die Hinterlist, mit der ihn der englische General Warren Hastings[WS 2] überrumpelte, und die flammende Beredsamkeit, mit der dieser Fürst nach seiner Flucht seine indischen Standesgenossen vergeblich zu einträchtigem Zusammenhalten und gemeinschaftlichem mutigen Vorgehen gegen die Eindringlinge zu beschwören versuchte. Wer je das etwa sieben Kilometer von Benares entfernt am jenseitigen rechten Gangesufer liegende Radschah-Schloß Ramnagar[WS 3] besucht hat, wird erfahren haben, mit wie fürchterlichen Mitteln dort die englischen Soldaten gehaust und der Mutter des Fürsten und seinen Gemahlinnen ihre Kostbarkeiten und Schmuckstücke abgepreßt haben. Es ist Tatsache, daß Warren Hastings in diesem Schlosse nicht weniger als fünf Millionen Mark erbeutete, daß der Anführer der Truppen, Major Potham[WS 4], 700 000 Mark, seine Offiziere 100 000 Mark und jeder Soldat 30 000 Mark mit sich davontrugen!

Erst wenn man all dieses weiß, wird man die jetzige äußere Armseligkeit dieses Palastes begreifen; aber noch unendlich viel wichtiger ist es, sich an die ungeheuren Umwälzungen zu erinnern, die Benares durchgemacht hat, daran zu denken, daß etwa sechshundert Jahre vor Christi Geburt der indische Fürstensohn Sakya Muni hierher gepilgert kam und sich bei Sarnath[WS 5] in der Nähe von Benares niederließ, um jene die Hindus vom Joche des tyrannischen Brahminentums erlösenden Lehren zu predigen, die ihren Verkünder zum gottähnlichen Buddha verklärten und ihren Siegeslauf durch ganz Indien und einen großen Teil Asiens nahmen.

Doch die mehr als ein Jahrtausend hindurch als Hort des Buddhismus geltende Stadt Benares wurde ebenso wie das übrige fast gänzlich buddhistisch gewordene Indien durch die unermüdlichen Brahmanen ihrer Hierarchie zurückgewonnen und im Laufe der Zeit sogar zum gefeiertsten Sitze dieses Kultus, an dem nicht weniger als 25 000 Brahmanen anwesend zu sein pflegen; daß es den Brahmanen durch die unablässige Versicherung, Buddha sei nichts anderes als eine neue Inkarnation einer brahminischen Gottheit gewesen, gelang, die gefahrdrohend angeschwollene Macht des Buddhismus zu brechen, ist mindestens ebenso staunenswert wie der Lebensgang des Religionsstifters Buddha und dessen Riesenerfolge.

An diese überwältigend bedeutsame Umwandlung mußte ich erinnern, damit die uralten Reste buddhistischer Bauten in der Nähe dieses nunmehrigen Brahminensitzes Benares nicht befremden, der nach Vorstellung der Hindus gleich einer Lotosblüte aus dem Dreizack[WS 6] des Gottes Schiwa erblüht sein soll, ja sogar als eine Verkörperungsform dieses Gottes betrachtet wird. Es ist demnach kein Wunder, daß hier fast alles nur auf den Schiwakultus Bezug hat. Der einzige große Tempel, der dem anderen Hauptgott der Hindus, dem Wischnu, gewidmet war, liegt in Trümmern, und auf diesen hat der siegreiche Großmogul Aurungzeb am Ende des siebzehnten Jahrhunderts die schlanken

Minarets einer Moschee erstehen lassen, die dem Ankömmling bereits von

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Chait Singh: vergleiche Chait Singh (en), regierte 1770-1781
  2. WS: Warren Hastings: vergleiche Warren Hastings, de facto General-Gouverneur, regierte 1773-1785
  3. WS: Radschah-Schloß Ramnagar: vergleiche Ramnagar Fort (en)
  4. WS: Major Potham: Major William Popham, später Colonel
  5. WS: Sarnath: vergleiche Sarnath
  6. WS: Schiwas Dreizack: vergleiche Trishula
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/227&oldid=- (Version vom 9.7.2018)