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Einen Tempel oder eine Moschee soll der Tadsch also keineswegs vorstellen, wohl aber finden wir in Agra auf der anderen Flußseite einen der formenreinsten mohammedanischen Andachtsplätze, die Perl-Moschee[WS 1], die nebst anderen Prunkbauten von mohammedanischen Herrschern innerhalb der einst fast uneinnehmbaren Burgmauern errichtet wurde.

Perl-Moschee in Agra.

Präsentierend tritt die Wache ins Gewehr, sobald der Wagen eines Europäers durch das gähnende Tor dieser zyklopischen Burgwälle[WS 2] donnert. Doch unsere Heiterkeit wegen dieser nicht gewohnten Ehrenerweisung wandelt sich beim Betreten des Hofes der Perl-Moschee in ruhige, reine Freude, denn mit Staunen sehen wir, daß diese mächtige Wirkung durch schier unglaublich einfache Architekturmittel hervorgebracht wird, indem hier kein anderes Motiv als die gerade Linie, der Halbkreis und die Kuppelwölbung benutzt und auf jeden äußerlichen Ausputz Verzicht geleistet wurde. Wenn freilich die glatten Marmorfliesen dieser Moschee sprechen könnten, auf denen sich die Gläubigen allabendlich in der Richtung nach Mekka niederbeugen, dann könnten sie erzählen von den Seufzern und dem Todesröcheln, das einst aus den darunter liegenden Grüften empordrang, wenn dort Scharen brahminischer Hindus dem Hungertode erlagen, die nicht willens waren, dem Befehl des Großmoguls zu gehorchen und gleich vielen ihrer Landsleute zur Fahne des Propheten zu schwören. Nur vereinzelt fielen später die Nachkommen der mit so gewaltsamen Mitteln zu Mohammedanern gemachten Hindus beim Nachlassen des fanatischen Druckes wieder dem Brahminentum zu, so daß unter den fast 300 Millionen Menschen, die Indien bewohnen, immer noch der beträchtliche Bruchteil von rund 50 Millionen aus Mohammedanern besteht.

Das ganze Leben und Treiben am Hofe der Moguls wird vor dem geistigen Auge lebendig, wenn wir die anderen Burghöfe durchschreiten und die riesige, an drei Seiten offene Marmorhalle erblicken, die als „öffentliche Audienzhalle“ oder Diwan-I-Am an gewissen Festtagen jedermann Gelegenheit bot, sich dem Antlitz seines Herrschers zu nahen, der dann von allen Großen seines Reiches unter Entfaltung eines für unsere Begriffe unerhörten Prunkes umringt war. Gegenwärtig lagern auf dem Platz, wo einst die malerischen Gruppen kriegerischer und siegreicher Mohammedaner ihrem Gebieter

zujauchzten, Pyramiden von englischen Bomben und Kanonenläufen, die den

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Perl-Moschee: vergleiche Moti Masjid (Agra Fort) (englisch: Pearl Mosque)
  2. WS: Burgwälle: vergleiche Rotes Fort (Agra)
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/202&oldid=- (Version vom 1.7.2018)