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sind, kehren überall in unerschöpflicher Abwechselung und Mannigfaltigkeit wieder, und werden auch mit Vorliebe auf den berühmten Marmorwaren Agras als Einlagen durch farbige Steine nachgebildet.

Es ist ziemlich gleichgültig, ob die Sage wahr ist, wonach ein genialer, seiner französischen Heimat eines Verbrechens wegen entflohener Juwelier oder ob ein italienischer Architekt der Urheber der Grundidee zu diesem wahrhaften Wunderbau gewesen sein soll, dessen Anlage, Abstufung und Begrenzung durch vier Minaretnadeln bei einem Blick aus der Vogelschau von der Zinne des Durchgangstores am klarsten zu Tage tritt; ebenso zweifelhaft ist es, ob der Baukünstler auf Anstiften des Bauherren, des gewaltigen Schah Dschehan[WS 1], schließlich ermordet worden ist, um kein anderes Bauwerk von ähnlicher Pracht errichten zu können.

Marmorteller mit Einlage von farbigen Steinen. 1/12.

Unstreitig wurde die Absicht des Erbauers vollkommen erreicht, allerdings mächtig unterstützt von einer unübertrefflich feinfühligen gärtnerischen Verwendung von Zypressen und anderen ernst und schwermütig erscheinenden Baumgruppen, die sich nebst der Vorderseite des Baues auf der ruhig klaren Wasserfläche eines in Marmor gefaßten Beckens widerspiegeln, so daß der Marmorbau sich wie ein von Hoffnungsgrün umrahmtes, verkörpertes Ideal keuscher Reinheit vom blauen Himmelszelt abhebt. Dies alles im Verein mit der stadtfernen, weihevollen Stille des Ortes unterstützt die Wirkung dieser märchenhaften Schöpfung, die keinen geringeren Zweck hat, als fürstlicher Hochherzigkeit einen ewig dauernden Ausdruck zu geben; mit diesem Wunderbau suchte Schah Dschehan das Andenken an die geliebteste seiner zehn Gemahlinnen, an die Perserprinzessin Ardschmand Bonni Begum, zu ehren, die von ihm den Beinamen Mumtaz Mahal[WS 2], d. h. die Auserwählte des Palastes, erhielt. Daß freilich neben deren irdischen Überresten nach seinem Hinscheiden auch die seinigen in diesem Mausoleum Ruhe finden sollten, lag keineswegs in den Absichten Schah Dschehans; er hatte vielmehr angeordnet, daß als Grabstätte für ihn ein nicht minder prächtiges Gebäude auf dem gegenüberliegenden Dschamna-Ufer errichtet werden sollte, ein letzter Wunsch, der von seinem Sohn und Nachfolger Aurungzeb mißachtet wurde, indem dieser es vorzog, die dafür hinterlegten Baukosten von etwa 40 Millionen Mark in die eigene Tasche zu stecken. Dieser Aurungzeb muß den Inbegriff eines asiatischen Tyrannen verkörpert haben, der sich nicht scheute, seinen eigenen Vater im Palast zu Agra einzukerkern, nachdem er ihn durch Übersendung des in eine Geschenkkiste verpackten abgehackten Kopfes seines Bruders Dara[WS 3], der des Vaters Lieblingssohn war, zu Tode erschreckt hatte. Um das Urbild eines Franz Moor[WS 4] zu vervollständigen, soll er auch der zärtlichen Pflegerin des gefangenen Vaters, seiner Schwester Dschahanara Begum[WS 5], einen Kelch voll Gift gereicht und sie so aus der Welt geschafft haben.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Schah Dschehan: vergleiche Shah Jahan, regierte 1627–1658
  2. WS: Ardschmand Bonni Begum/Mumtaz Mahal: vergleiche Mumtaz Mahal (Arjumand Banu Begum)
  3. WS: Dara: vergleiche Dara Shikoh
  4. WS: Franz Moor: vergleiche Schillers Räuber
  5. WS: Dschahanara Begum: vergleiche Jahanara Begum
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/201&oldid=- (Version vom 1.7.2018)