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Pilger drängten, während die damals vorhandenen Wandgemälde und die als Opfer niedergelegten Kleinodien und sonstigen Schätze durch Fackellicht erhellt wurden. Wohl aber muß ich erwähnen, daß ich niemals dem Tode näher war, als hier in einer dieser dunklen Höhlen, die wie zu Schlupfwinkeln für Schlangen geschaffen scheinen. Solange die laut lärmenden und lachenden Scharen fröhlicher Gesellschaftsreisender in diesen Gewölben weilen, in denen einst unbekannte, titanenhafte Baukünstler danach trachteten, ihre Gottheitsbegriffe für alle Ewigkeit irdisch zu verkörpern, lassen sich die schleichenden Reptilien allerdings nicht blicken; trotz fehlender äußerer Hörorgane scheinen diese Tierchen doch gut hören zu können, wie ihre Beachtung von Musiktönen zeigt, die ja sogar bis zu krampfhaftem, schmerzlichem Zusammenzucken bei falschgespielten Noten gehen soll. Aber sowohl wegen der wunderbaren Szenerie dieser geheimnisvollen Räume und versteinerten Rätsel, deren Bedeutung ich mir zu entziffern versuchte, wie auch wegen der besonderen technischen Schwierigkeiten, dort gute photographische Ausnahmen zu machen, hielt ich mich stundenlang einsam darin auf. Mit dem umfänglichen Apparat aus dem Stativ hin- und hermanövrierend, empfand ich plötzlich das Gefühl einer völligen Lähmung, als ich, den Kopf unter dem Einstelltuch hervorziehend und mit dem Fuße rückwärts tretend, mich zufällig einen Augenblick nach hinten wendete und sah, wie über dieselbe Stelle, auf der ich eben den schon emporgezogenen Fuß niedersetzen wollte, Kopf und Leib einer mindestens einen Meter langen Kobraschlange dahinglitt, die dann in einem Spalt in der Felsenwand hinter meinem Rücken verschwand! Mit Hilfe des alten Invaliden, dem die Führung der Fremden durch die Höhlen obliegt, gelang es auch schließlich, das entsetzliche Tier unschädlich zu machen.

Über die grausigen „Türme des Schweigens“[WS 1], in denen die Parsis ihre Toten aussetzen und durch Geier verzehren lassen, kann niemand viel sagen, weil ja nie ein anderer Mensch durch die kleinen Pforten in diese fünf runden Mauerringe hineinschauen darf, als die für verfehmt geltenden Angestellten, von denen die Leichname auf den kreisförmigen Stufen niedergelegt werden. Sobald diese die eiserne Tür wieder hinter sich ins Schloß geworfen haben, stürzen sich die auf den umliegenden Bäumen lauernden Vögel gierig in die oben offenen Amphitheater, und binnen ein bis zwei Stunden ist jede Spur des Fleisches verschwunden; die Skelettreste werden allmählich vom Regen in einen riesigen Brunnen in der Mitte des Gebäudes geschwemmt, worin die Rückstände im Laufe von 50 Jahren noch nicht zwei Meter hoch steigen. Daß diese Bestattungsmethode für tropische Länder hygienische Vorteile bietet, ist wohl nicht zu bestreiten, auch wird dadurch dem Erdboden nicht wie durch das Verbrennen fruchttragendes Humusmaterial entzogen. Nirgends habe ich einen Ort gefunden, der einen besseren Uberblick über Bombay und die anderen Inseln der Meerbucht böte, als diesen auf der Höhe des Malabarhügel liegenden Garten, in dem sich die Türme des Schweigens erheben.

Von den etwa 100 000 existierenden Parsis kommen etwa 50 000 auf Bombay. Hier haben sich diese im 17. Jahrhundert nach der Flucht ihres Sassanidenkönigs

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Türme des Schweigens: vergleiche Dachma
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/174&oldid=- (Version vom 1.7.2018)