Seite:Durch Indien ins verschlossene Land Nepal.pdf/173

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Toten zum Verbrennungsplatz getragen und dort gleichfalls durch Feuer vernichtet. Die Verbrennungsplätze liegen zumeist in der Vorstadt. Dort erst, wo die letzten Häuser stehen, zeigt sich das Leben der ärmsten Hindus in seiner ganzen unbeschreiblichen Dürftigkeit, besonders an den Plätzen, an denen die geringen Lebensbedürfnisse dieser Vorstädte verkauft werden; unter diesen schwachen Schemen findet der Hyänenhunger des Pestgespenstes widerstandslos seine hinfälligste Beute.

Am häufigsten sind auch hier die Händler mit den für das Hindu-Mundwerk unentbehrlichen Süßigkeiten oder Betelblättern und Rauchtabak vertreten. Die einen bieten viereckige, in Sirup gebackene Reiskuchen oder große Kugeln aus grobem Marzipan feil, andere eine merkwürdige Füllung für die beliebte Wasserpfeife, einen schwärzlichen, tonartigen Tabak, der aus allen möglichen Blättern, selbst aus denen der Rose, mit etwas Opiumabfall und Honig zusammengewalzt und dann an der Sonne getrocknet wird, und auch an Palmwein- und Dattelschnapsbudikern[WS 1] ist kein Mangel.

Selbst ganz draußen, unter den schattigen Fikusbäumen[WS 2] der Landstraße vegetiert noch ein magerer Geschäftsverkehr. Da kauern die Heilkünstler und Scharlatane, die keine Ladenmiete erschwingen können oder wollen, und kurieren und operieren nach Herzenslust. Wer die wundervollen Instrumente unserer Chirurgen kennt, muß sich mit Entsetzen abwenden, wenn er diese rohen Eingriffe in die Gehör- und Nasengänge oder in das Gehege der Zähne mit geradezu vorsintflutlichen Werkzeugen, mit Sicheln und großen Nägeln nur ansieht. Der mürrische Gesichtsausdruck ihrer Patienten scheint uns aber andeuten zu sollen, daß unser, des gestrengen weißen Sahibs, „böser Blick“ nicht als ersprießlich für des Heilkünstlers Tätigkeit gilt! Wir tun den Leutchen den Gefallen und kehren ihnen den Rücken, um aus dem schwarzen Viertel heimzufahren und in dem herrlichen Park des Bycullaklubs oder in den schattigen Gärten auf dem Malabarhügel[WS 3], dem Villenviertel der vornehmsten Einwohner Bombays, unsere Nerven nach den aufregenden Eindrücken dieser Stadtwanderung in ruhigere Schwingungen kommen zu lassen.

Im Hinblick auf meine Schilderung der Felstempel von Mawilipuram kann ich es mir wohl versagen, den Felsentempel auf der Insel Elefanta[WS 4], den kein Reisender zu besuchen versäumt, ausführlich zu beschreiben, zumal es mir nicht vergönnt war, ihn bei der einzigen Gelegenheit zu sehen, wo man sich eine zutreffende Vorstellung des darin zu den Zeiten seiner Entstehung, also im achten oder zehnten Jahrhundert, waltenden Lebens machen konnte, ich meine, wie ihn der jetzige König von England als Prinz von Wales besuchte; damals wurde durch die Anwesenheit zahlloser indischer Großen in Prunkgewändern sowie durch den Gesang und Tanz der schönsten Bajaderen[WS 5] in den bengalisch erleuchteten[WS 6] Hallen ein Abglanz jener Zeit geschaffen, wo sich in diesen aus den Felsmassen der Insel herausgekratzten Hallen und vor den noch nicht durch portugiesischen Inquisitoreneifer zerstümmelten Riesenstatuen der indischen

Trimurti-Götter Brahma, Wischnu und Schiwa noch Scharen gläubiger

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Budiker: vergleiche Budike
  2. WS: Fikus: vergleiche Feige
  3. WS: Byculla und Malabarhügel: vergleiche Byculla und Malabar Hill
  4. WS: Elefanta: vergleiche Elephanta (Insel)
  5. WS: Bajaderen: vergleiche Bajadere
  6. WS: bengalische Beleuchtung: vergleiche Bengalisches Feuer
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/173&oldid=- (Version vom 1.7.2018)