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Wären die Hindus nicht von Haus aus eine so durchaus liebenswürdige, sanfte Menschenart, was würde aus so dauernd enger Nachbarschaft entstehen? Eins aber entsteht sicher aus dieser patriarchalischen Lebensweise, die zur Aufrechterhaltung der Kastenreinheit beitragen soll: ein Herd für Epidemien, wie er furchtbarer gar nicht gedacht werden kann! Sehen wir uns nur einmal diese Hinduhäuser an! Wie ineinandergeschachtelt, ohne Höfe, ragen da diese engen Hinduhäuser in die Luft, bald als überaus niedrige, bald als hohe Bauten mit niedrigen Zimmern. Nicht Familien sind es, nein, ganze Kolonien, die dort unter ein und demselben Dache dieselben Lebensbedingungen miteinander teilen. Eine Handvoll Getreide, das auf irgend eine Weise zum Träger und Verbreiter der Seuche geworden ist, vergiftet sofort die ganze Masse gleich empfänglicher, weil in gleicher Weise lebender und aus demselben Topf gespeister Hausbewohner, und dann greift von hier aus die Ansteckung mit lawinenartigem Anwachsen um sich.

Schauen wir uns aber von unserem Standpunkte, dem Dache des Leinwandmarktes, noch etwas weiter um! Natürlich kommen und gehen hier besonders diejenigen ein und aus, die ihren Bedarf an Leinwand zu decken wünschen, der ja in diesem Klima durch das Entfallen dicker Tuchkleider recht bedeutend ist. Hier schleppt ein Kuli einen wahren Berg von Leinwandbündeln davon, und dort geht eine Kulifrau mit einem wohl zentnerschweren ungeheuren Paket gebügelter Leinenwaren auf dem Kopfe. Was doch diese Art des Lasttragens den Frauen im gewöhnlichen Leben für eine freie stolze Haltung gibt! Dadurch scheinen sie zu lernen, den Nacken aufrecht zu tragen und festen Schrittes einherzugehen. Mich erinnern die graziösen indischen Kulimädchen unausgesetzt an die Mahnung meines Tanzlehrers, die er den jungen Damen erteilte: „Bilden Sie sich nur stets ein, mit Anmut eine dreißig Pfund schwere Goldkrone auf dem Haupte tragen zu sollen, dann werden Sie bald als Ballkönigin erscheinen!“

Dort huschen gesenkten Auges zwei Mädchen vorüber. Wie unendlich einfach ist doch diese Art der Indierinnen, das Gewand nur aus zwei losen, lichtfarbigen Tüchern zu schlingen, eins um die Hüften, das andere um Busen und Kopf, zu Zeiten auch vor das Gesicht! Diesen beiden folgt ein Hindu, der kaum so viel auf dem Leibe trägt, wie bei uns in einer Schwimmanstalt üblich ist; wie sticht dieser arme Teufel von den beiden vornehmen, in weite und luftige weiße Linnengewänder gehüllten Kaufleuten ab, die ihrem hoch mit Einkäufen beladenen Zebukarren[WS 1] folgen! Wahrscheinlich bergen die sauberen Ballen Seide oder Linnen von besonderer Güte; rohe Baumwolle ist keinesfalls darin, sonst würde diese in weißen Flocken durch alle Poren der Umhüllung hervorquellen, wie man dies bei den endlos langen Ochsenkarrenzügen bemerken kann, die tagtäglich dies wichtigste Ausfuhrmaterial Bombays an den Hafen befördern, das während des nordamerikanischen Bürgerkrieges infolge eines beispiellosen Hazardspieles und Gründungsschwindels fabelhaft im Preise stieg und zahlreiche Baumwollenhändler über Nacht zu steinreichen

Leuten machte[WS 2]. Auf dem höchstgepackten Baumwollballen hockt dann stets der

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Zebu: vergleiche Zebu
  2. WS: Auswirkungen des Hazardspiels der CSA: vergleiche King Cotton (en)
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/169&oldid=- (Version vom 1.7.2018)