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den Faden gereihten Nadeln wieder herauszuholen, derartige Nervenkitzel sind und bleiben die Lieblingstäuschungen der indischen Zauberer.

Sehr Bedeutendes leisten diese Burschen auch im Austüfteln und Herstellen von Geduldsspielen, die bereits auch bei uns als Unterhaltungsspiele nachgeahmt werden. Viele dieser Scherze beruhen allerdings auf den lebhaften Mustern der Faserstruktur indischer Holzarten, worin die dort angebrachten Schnitte nicht zu erkennen sind. Das als Schlußvignette abgebildete Stück Holz ist z. B. von der Stelle, wo der Ring hängt, bis zu dem Loch, in dem das Querholz steckt, auseinandergeschnitten und läßt sich mit gelinder Kraftanstrengung auseinanderziehen, woran aber niemand denkt, der aufgefordert wird, Ring und Querholz von dem Klotz zu entfernen.

Selbst in südindischen Tempeln werden von Brahmanen niederen Ranges mythologische Legenden seit alten Zeiten durch wundertätige Vorrichtungen illustriert, die nichts anderes als physikalische Taschenspielerapparate sind. Ein sehr bezeichnendes Beispiel dieser Art ist der von den Raritätenhändlern Tantalus cup[WS 1] getaufte kleine Bronzebecher, in dem die Figur einer Halbgottheit steht, die als Amme ein kleines Kind in den Armen hält.

Füllt man diesen Becher mit Wasser, so bleibt es darin stehen, gießt man das Gefäß aber bis zum Rande voll, so entleert es sich plötzlich und veranschaulicht den Hindus das Zurücktreten der Wasser eines hochangeschwollenen Flusses, durch den der Gott Wischnu in der Verkörperung eines neugeborenen Kindes hindurchgetragen werden sollte.

Da den unwissenden Leuten von Heberwirkungen nichts bekannt ist, so erscheint ihnen die Selbstentleerung wie ein Wunder, die eintritt, sobald das Wasser im Becher über den Beugungswinkel des im unteren Teil der Figur verborgenen Heberröhrchens hinaufsteigt; das Wasser fließt dann in ein Kästchen ab, an dem der Wunderbecher zu stehen pflegt.

Das Allerwunderbarste an den Vorführungen der indischen Zauberer scheint mir die Tatsache zu sein, daß selbst in Indien reisende Männer der Wissenschaft beim Betrachten indischer Taschenspielerkunststücke den Wald vor Bäumen oft noch weniger als andere Leute gesehen haben; sie legten sich von vornherein ihr System des Spiritismus zurecht und hielten es nicht für möglich, daß gewagt werden könnte, den Menschenverstand durch die allergröbsten Mittel

zu übertölpeln. So wurde mir von einem beinahe unglaublichen Kunststück erzählt, dessen Schauplatz eine der unheimlichen, alten düsteren Felsentempelhallen gewesen war, an denen Indien so reich ist, und die durch flackerndes

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Tantalus cup: vergleiche Pythagoreischer Becher
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/130&oldid=- (Version vom 6.7.2018)