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Luft greifen. Daß ich tüchtigere Künstler aufzusuchen trachtete, als die armseligen Gaukler allerletzter Güte, die mit den Völkerausstellungen nach Europa geschleppt werden, brauche ich wohl nicht zu betonen, ebensowenig daß ich unter Zauberern nicht die später von mir besprochenen asketischen Wundertäter, die Jogis und ähnliche Büßer, sondern nur die Meister indischer Fingerfertigkeit verstehe.

Es ist keine Frage, daß die Taschenspielerkunststücke unserer europäischen „Prestidigitateure“[WS 1] ursprünglich aus dem Osten, aus Indien zu uns gekommen sind. Während aber die weißen Zauberer alle Fortschritte der mechanischen Künste mit unglaublicher Findigkeit auf ihren Hokuspokus anwendeten und magnetische, elektrische und chemische Hilfskräfte in Anspruch nahmen, blieben ihre indischen Kollegen bei den von ihren Urahnen ererbten überaus einfachen Geräten und vielfach geradezu abstoßenden Kunststücken und ekelhaften Überraschungen stehen.

Die Gleichgültigkeit, mit der sich diese Burschen die Augen aus den Höhlungen zerren, lange, verrostete Nägel in die Nase hämmern, oder ein unsauberes Blechschwert nach dem anderen durch den Mund und die Speiseröhre drängen, wobei sie sich mittelst künstlicher Gebisse und über die natürlichen Augäpfel gestülpter Riesenaugen ein gräßliches Ansehen geben, ist so recht auf die zarte Veranlagung der Verletzung und körperlichen Schmerz fürchtenden Hindus berechnet; loderndes Feuer, kleine Schlangen oder Skorpione in den Mund zu stecken, ist ein Scherz, der bei keiner Gauklerproduktion fehlen darf, und jeder Europäer erschrickt, der zum ersten Male sieht, welche Lasten derartige Künstler mittelst Haken heben, die, an kugligen Platten befestigt, luftdicht gegen die Augäpfel gepreßt werden —

Aber selbst wenn man in Erfahrung gebracht hat, wie die Burschen alle diese Wunder vollführen, staunt man doch über die vollendete Sicherheit, mit der sie gelingen. An sich sind diese Vorgänge fast alle unglaublich einfach und harmlos. Man versuche gütigst beispielsweise nur einmal selbst, ein flammendes Korkscheibchen in den Mund zu stecken, das darin sofort erlischt und gar keine Wärme entwickelt; ebenso ist es durchaus nicht etwa schwierig, im geheimen eine Nähnadel durch die Haut der Zeigefingerspitzen zu stechen, diese Nadel dann mit zwei Fingern vor die Stirn zu halten und scheinbar mit einem Schlage durch den Kopf zu treiben, in Wirklichkeit aber im selben Augenblicke die Fingerspitze ein wenig hoch zu heben, die Nadel im Haar zu verbergen und am Hinterkopfe daraus zum Vorschein zu bringen. Kann es wohl etwas Einfacheres geben, als von zwei gleich langen Baumwollfäden den einen zusammengerollt heimlich zwischen zwei Fingern der linken Hand zu verbergen, dann den anderen genau messen zu lassen, zu verbrennen und die Asche im linken Handteller zu verreiben, sie dabei aber wegzustreuen und dafür den anderen Faden unversehrt hervorzuziehen? Macht so etwas ein in unseren Wirtshäusern auftretender Zauberkünstler, so achtet niemand sonderlich auf den hübschen

Scherz, macht ihn aber ein brauner halbnackter Hindu, so kann der reisende

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Prestidigitateur: vergleiche Illusionnisme (fr)
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/123&oldid=- (Version vom 1.7.2018)