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könnten so werden, wie der Aussätzige oder der Blinde, und es kümmerte sich dann niemand um uns. Es ist auch seltsam beschränkt. Man sollte mit der Ganzheit des Lebens mitfühlen, nicht bloss mit den Wunden und Krankheiten des Lebens, sondern mit der Freude und Schönheit und Kraft und Gesundheit und Freiheit des Lebens. Je umfassender das Mitgefühl ist, um so schwerer ist es natürlich. Es erfordert mehr Uneigennützigkeit. Jeder kann die Leiden eines Freundes mitfühlen, aber es erfordert eine sehr vornehme Natur – es erfordert eben die Natur eines wahren Individualisten – den Erfolg eines Freundes mitzufühlen. In dem Gedränge der Konkurrenz und dem Ellbogenkampf unserer Zeit ist solches Mitgefühl natürlich selten und wird auch sehr erstickt durch das unmoralische Ideal der Gleichförmigkeit des Typus und der Fügsamkeit unter die Regel, das überall so sehr vorherrscht und vielleicht am schädlichsten in England ist.

Mitleid wird es natürlich immer geben. Es ist einer der ersten Instinkte des Menschen.

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Oscar Wilde: Drei Essays. Karl Schnabel, Berlin 1904, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Drei_Essays_Oscar_Wilde.pdf/96&oldid=- (Version vom 31.7.2018)