Seite:Die poetische Ukraine (1845).pdf/92

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Friedrich von Bodenstedt: Die poetische Ukraine. Eine Sammlung kleinrussischer Volkslieder

 31.

Zu Kiew auf dem Markte öffentlich
Schmausen und vergnügen die Polen sich;
Sie bereden die junge Anna mit ihnen zu flieh’n:
„Setz’ dich zu uns, Anne, wollen nach Polen zieh’n!
Dort lebt alle Welt in Herrlichkeit,
Die Frauen gehen immer im Festeskleid,
Geziert mit bunten Bändern und Spitzen,
An den Festtagen essen wir Palanitzen,[1]
Trinken süßen Meth und Branntewein
Zu ganzen Tonnen, nach Herzensergötzen –
Dort wissen die Männer die Frauen zu schätzen,
Und ihnen zu dienen, sie zu erfreu’n.“
Also lockten sie durch süßes Schmeichelwort
Die schmucke Anne mit sich zum Wagen fort,
Und das arme Kind, verlassen und verwais’t
Mit den Polen hinaus in die Fremde reis’t. –
Spät kommt die Mutter nach Hause zurück,
Vergebens ihre Anne sucht der Blick …
Und sie forscht und weint, und die Hände ringt,


  1. Aus Mais gebackene Kuchen.
Empfohlene Zitierweise:
Friedrich von Bodenstedt: Die poetische Ukraine. Eine Sammlung kleinrussischer Volkslieder. J. G. Cotta, Stuttgart u. Tübingen 1845, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_poetische_Ukraine_(1845).pdf/92&oldid=- (Version vom 31.12.2022)