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so unsäglich elend zu Mute, und dieses Gefühl des Unglücks steigerte sich noch, als er die Stadt wieder betrat.

Wohl grünte blühte und duftete alles, aber es erfreute nicht mehr sein Herz. Die Schlingpflanzen wucherten ja an Häusern empor, in denen einst ein fröhliches Familienleben geherrscht hatte, in den Straßen tummelten sich Mäuse und Ratten, die altehrwürdige Kirche war eine Brutstätte von Schlangen und Fröschen – und aus dem Manne, der einst ein fleißiger Handwerker, ein Bürger dieser Stadt gewesen, war jetzt ein barbarischer Wilder geworden, der es auf sein Leben abgesehen hatte.

Plötzlich entstürzten den Augen des sonst so unverzagten Richard Thränen des bittersten Jammers. Er fühlte sich so unendlich verlassen und unglücklich.

„Ich möchte, dies alles wäre nur ein böser Traum,“ schluchzte er, „und ich könnte daraus erwachen!“ –

Erstaunt blickte er um sich.

Das war ja sein altes Schlafzimmer! Er lag im Bett! Er hatte nur geträumt.

Aber noch einmal fühlte er dieselbe Empfindung nach, die er eben im Traume gehabt, und schauderte zusammen.

„Ueber kurz oder lang hätte mich der Schuster doch ermordet,“ flüsterte er. „Es ist schrecklich, wie schnell ein Mensch verwildern kann, wenn er nicht stark genug ist, sich allein fortzuhelfen.“

Richard verließ das Bett und schleppte sich zum Fenster.

Es war ein schöner Sommermorgen, die Straßen schon belebt, Handwerker und Geschäftsleute eilten der Arbeit zu, die Nachbarn wünschten sich einen guten Morgen.

Dem Knaben floß plötzlich das Herz von dankbarer Freude über.

„Gott sei gelobt, daß es nur ein Traum war,“ flüsterte er noch einmal.




Heft 3 enthält die Erzählung: „Der rote Messias“.


Empfohlene Zitierweise:
Robert Kraft: Die Totenstadt. H. G. Münchmeyer, Dresden (1901), Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Totenstadt.pdf/34&oldid=- (Version vom 31.7.2018)