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Walther Kabel: Die „Rote Tinktur“. In: Deutscher Hausschatz, 42. Jahrgang, 20. Heft, S. 787–788

Die „Rote Tinktur“.
Von W. Kabel.

Neben der Gewinnung des „Steines der Weisen“, durch dessen Berührung mit unedlen Metallen man diese in Gold verwandeln zu können hoffte, beschäftigte die Alchimisten des 15. und 16. Jahrhunderts besonders das Problem der sogenannten „Roten Tinktur“. Hierunter verstanden die Adepten eine besondere Art von goldhaltiger Flüssigkeit, in der man das Gold gleichsam in seinen Urzustand zurückgeführt und in seine Keime zerlegt zu haben glaubte, in Keime, die wie Samen Wurzel treiben und wachsen können. Es kam eben nur darauf an, die richtige Mischung zu finden, dann vermochte man aus einer kleinen Menge der „Roten Tinktur“ eine bedeutende Masse des vielbegehrten Edelmetalls zu gewinnen – so dachten wenigstens die Alchimisten.

Unzählige und zum Teil recht gelehrte Leute haben Jahre ihres Lebens geopfert, um das Mischungsgeheimnis dieser glückverheißenden Lösung zu entdecken, viele glaubten es gefunden zu haben und mußten doch bald wieder einsehen, daß sie Opfer einer Täuschung geworden waren. Zur Ehre der Alchimisten muß man jedoch betonen, daß die „Rote Tinktur“ keineswegs als ein bloßes Hirngespinst angesprochen werden kann, sondern daß sie nach den neuesten chemischen Forschungen sogar einen höchst interessanten Stoff darstellt – ganz im Gegensatz zu dem vielgenannten „Stein der Weisen“, der nichts als ein Phantasiegebilde überhitzter Adeptenköpfe war.

Von Rezepten zur Bereitung der golderzeugenden Lösung sind eine ganze Menge erhalten geblieben. Besonders der Alchimist Korndorffer hat in seinem Traktat „Nun folgt ein Stuck, daß das Golt ad tinkturam gebracht wirdt“ mehrfache Vorschriften hierzu gegeben. Jedenfalls war die „Rote Tinktur“, wie Professor König nachgewiesen hat, nichts anderes als eine Goldlösung von leimartiger Beschaffenheit. Man nahm zu ihrer Herstellung gewöhnlich das äußerst dünne Blattgold der Goldschläger und rieb es stundenlang mit Salz, Salmiak, Spiritus, Fett und auch Pottasche zusammen. Dadurch und noch leichter durch Hinzufügen von pulverisiertem oder gelöstem Eisenvitriol erhielt man eine rote Goldflüssigkeit, die sich unter dem Mikroskop als eine überaus feinkörnige Goldverteilung erweist. Der Chemiker Professor Zsigmondy berechnet die Goldstäubchen, welche die Purpurfarbe der Lösung bedingen, mit 1 bis 80 Millimikron im Durchmesser, wobei ein Millimikron einem Millionstel Millimeter gleich ist, während die feinsten Goldblättchen, die bekanntlich das Licht mit grüner Farbe durchscheinen lassen, eine Dicke von etwa ein Tausendstel Millimeter aufweisen.

Die Alchimisten verstanden es nun sehr gut, aus einer solchen Lösung von metallischem Golde dieses durch Abdampfen des Lösungsmittels in Form einer braunen festen Masse zurückzuerhalten, die in scharfer Glut zum metallischen Goldbarren zusammenschmolz. War Kupfervitriol oder Galmei (ein zinkhaltiges

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Die „Rote Tinktur“. In: Deutscher Hausschatz, 42. Jahrgang, 20. Heft, S. 787–788. Friedrich Pustet, Regensburg, Rom, New York, Cincinnati 1916, Seite 787. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Rote_Tinktur.pdf/2&oldid=- (Version vom 31.7.2018)