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Walther Kabel: Die Phantasie des Dichters. In: Bibliothek für Alle, 4. Jahrgang, 5. Bd., S. 78–80

übten die dichterischen Gestalten des modernen französischen Schriftstellers Gaston Pelterelle eine ganz andere Wirkung auf ihren Erschaffer aus. Pelterelle, der verlobt war, zeichnete in seinen Romanen und Novellen mit Vorliebe Frauengestalten mit ränkesüchtigen, in Eitelkeiten und Äußerlichkeiten aufgehenden Charakteren. Leider sollte dieses Vertiefen in die Schattenseiten der Frauenherzen seine Ansichten von der holden Weiblichkeit überhaupt derart beeinflussen, daß er ein vollständiger Weiberfeind wurde, keiner Frau mehr etwas Gutes zutraute, und aus diesem Grunde sogar seine Verlobung löste, Frankreich verließ und nach New York übersiedelte. Auch Walter Scott, der sonst ein sehr kühler Geist war, spielte seine Phantasie in ihrer höchsten Erregung einmal einen Streich, der den Dichter beinahe ins Irrenhaus gebracht hätte. Er schrieb gerade für seinen verstorbenen Freund Byron einen begeisterten Nachruf, als er plötzlich in den Falten eines Vorhangs des Toten Gesicht zu sehen glaubte. Hinauf entspann sich zwischen der Erscheinung und Scott eine lebhafte Unterhaltung, deren Inhalt der Dichter am Abend wirklich im Freundeskreise wiederholte, wobei er mit größter Bestimmtheit behauptete, Byron sei ihm tatsächlich als Wesen von Fleisch und Blut erschienen. Als ihm allgemein widersprochen und ihm das Unmögliche eines solchen Vorganges klargemacht wurde, geriet er in solche Erregung, daß seine Freunde ihn schleunigst zu einem Nervenarzt brachten. Dieser gab Scott ein Beruhigungspulver, und erklärte ihm auch mit überzeugender Beredsamkeit, wie einzig und allein das intensive Erinnern an Byrons Person bei Niederschrift jenes Nachrufes die Sinnestäuschung hervorgerufene habe. Am nächsten Morgen nach ruhig durchschlafener Nacht soll der Dichter selbst seine „Geisterseherei“ belächelt haben.

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Walther Kabel: Die Phantasie des Dichters. In: Bibliothek für Alle, 4. Jahrgang, 5. Bd., S. 78–80. Verlag der Bibliothek für Alle, Dresden 1912, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Phantasie_des_Dichters.pdf/5&oldid=- (Version vom 31.7.2018)