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Walther Kabel: Die Phantasie des Dichters. In: Bibliothek für Alle, 4. Jahrgang, 5. Bd., S. 78–80

daß er denke, spreche und gehe wie sie. So habe er, als er „Vater und Sohn“ schrieb, lange in der Art wie Basarow gesprochen. Voltaire wurde dadurch ein entschiedener Gegner der Todesstrafe, daß er einmal die letzten Stunden eines zum Tode Verurteilten sich ausmalte und in einer seiner Schriften dann festlegte. Diese Schilderung der Seelenqualen der dem Tode Geweihten erschütterte ihn tief, und in seinem nächsten Briefe an seinen Freund Friedrich den Großen machte er diesem allen Ernstes den Vorschlag, die Todesstrafe in Preußen abzuschaffen. Als Dickens seine Erzählung „Sylvesterglocken“ vollendet hatte, schrieb er, sie hätte ihm soviel Kummer und Gemütsbewegung verursacht, daß er sich eingeschlossen hätte, um niemandem seine verweinten Augen zu zeigen. Ähnlich Heinrich v. Kleist. Dieser war über das tragische Schicksal seiner Penthesilea sehr betroffen. Als der das Stück fertig hatte, sagte er einem Freunde unter Tränen: „Sie ist tot!“ und tat dabei, als ob er ein heißgeliebtes Wesen verloren hätte. Der Franzose Balzac wieder sprach von den Personen seiner „Comédie humaine“ so, als ob sie seine intimsten Freunde wären, tadelte und lobte ihre Handlungen und sagte von einigen „mit denen kann man nicht verkehren“, so daß seine Bekannten ihn bisweilen für geistesgestört hielten.

Goethe äußerte einst zu Schiller, als er gerade auf der Höhe seines Ruhmes stand, er wisse nicht, ob er noch eine wahre Tragödie zu schreiben imstande sei. Er fürchte die damit verbundenen Aufregungen, denen sein Nervensystem nicht mehr gewachsen sei. Als er mit dem Entwurf zu „Hermann und Dorothea“ beschäftigt war, und die schöne Szene zwischen Hermann und seiner Mutter unter dem Birnenbaum zum erstenmal im Schillerschen Kreise vorlas, quollen ihm Tränen aus den Augen hervor. Lewis Wallace, der bekannte Verfasser von Ben Hur, jenes zu Christi Zeiten spielenden Romanes, soll durch das eingehende Bibelstudium, das er für sein Werk brauchte, und durch die eigenen hochpoetischen Schilderungen derart ergriffen worden sein, daß er, der bisherige Freigeist, plötzlich der religiöseste Mensch wurde. Dagegen

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Walther Kabel: Die Phantasie des Dichters. In: Bibliothek für Alle, 4. Jahrgang, 5. Bd., S. 78–80. Verlag der Bibliothek für Alle, Dresden 1912, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Phantasie_des_Dichters.pdf/4&oldid=- (Version vom 31.7.2018)