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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

sofort die ihm zugedachte Stelle, und es ging vom ersten Augenblicke an gut. Die ihm angewiesene Thätigkeit war der Art, daß er weder selbst zu täuschen und zu lügen, noch die Lügen Anderer zu glauben brauchte. Er hatte nicht nöthig zu überfordern oder zu unterbieten, zu feilschen oder zu überlisten und Ueberlistungen abzuwehren. Was darüber hinaus an Menschenkenntniß und deren Anwendung erfordert wurde, ward ihm geläufig, wie ehedem, da ihm mit der verschwundenen Befangenheit es wie Schuppen von den Augen fiel.

So flossen seine Tage ernst und still dahin und nicht die kleinste Freude erhellte seine Augen. Mit Justine lebte er ohne jede Verbindung; er erwartete vergeblich ein Zeichen von ihr, daß sie die geschehene Beleidigung bereue und zurückzunehmen wünsche, während sie hieran von den Ihrigen verhindert wurde, welche fanden, es sei besser, die Dinge einstweilen liegen zu lassen, wie sie lägen, und das weitere Glück des Jukundus abzuwarten, ob dasselbe auch Bestand habe. Sie hatten nicht Unrecht, es ein Glück zu nennen; denn das Finden seiner selbst in dunkeln Tagen ist meistens mehr Glückssache, als die Menschen gewöhnlich eingestehen wollen, und hier hatte es vielleicht einzig von der zufälligen Begegnung mit dem erfahrenen und einsichtigen fremden Manne abgehangen.

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 188. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/464&oldid=- (Version vom 31.7.2018)