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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

zu seiner Mutter; die fing aber sogleich an zu weinen, als sie von der Lage Kenntniß erhielt. Alles schien ihr verloren, wenn der Sohn sich nicht an die Frau und deren Haus hielte, und sie beschwor ihn, sein und der Seinigen Glück nicht zu Grunde zu richten.

Die gute Mutter hatte sich gegen die Armuth nun so lange zu wehren und derselben durch ihre kluge Verheirathung des Sohnes, wie sie glaubte, für immer zu entgehen gewußt, und sie fürchtete die Armuth wie ein geschliffenes Schwert.

Justine dagegen haßte und verachtete die Armuth wie etwas an sich Böses und Verächtliches, wenn es sich nicht etwa um fremde arme Leute handelte, denen man gemächlich Gutes thun kann. Sie übte sogar eine eifrige und geordnete Mildthätigkeit, ging in die Hütten der Armen und suchte sie auf. Aber wo die Armuth in ihre engeren Lebenskreise der Blutsverwandtschaft oder Freundschaft eindringen wollte, empfand sie einen harten Abscheu, wie gegen die Pest, und floh ordentlich davor. Es half daher nichts, daß Jukundus wieder zu ihr ging und ihr vorstellte, sie könne ja das ungewisse Schicksal immer ein wenig mit ihm versuchen und ertragen, da ihr ja schließlich die elterliche Zuflucht und ihr reiches Erbe gesichert sei. Nicht einen Tag wollte sie ihn und sich der Noth und der Erniedrigung ausgesetzt sehen, und als

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/423&oldid=- (Version vom 31.7.2018)