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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

liebt Dich so, daß sie schon längst sich ein Leid angethan hätte, wenn Du nicht in der Welt zurückbleiben würdest. Uebrigens gedenke doch dessen, was Du ihr schuldest! Würdest Du jetzt in Deiner Kraft und Schönheit dastehen, wenn sie Dich nicht aus dem Sarge des Henkers genommen hätte? Und gedenke auch der Mutter Küngolts und ihres braven Vaters, die Dich erzogen haben, wie ihr eigenes Kind. Und bist denn Du der einzige Richter über den Fehl eines schwachen Kindes? Hast Du selbst noch nie Unrecht gethan? Hast Du keinen Mann erschlagen in Deinen Kriegen, dessen Tod nicht gerade nöthig gewesen wäre? Hast Du keine Hütten von Armen und Wehrlosen verbrannt? Und wenn Du auch dies nicht gethan, hast Du immer Barmherzigkeit geübt, wo Du es gekonnt hättest?"

Dietegen erröthete und sagte: „Ich will Nichts geschenkt haben und Niemandem etwas schuldig bleiben! Wenn es sich verhält, wie Ihr sagt, mit dem Ruechensteinischen Rechtsbrauche, so will ich hingehen und das Kind zu mir nehmen! Möge Gott mir und ihr dann weiter helfen, wenn sie nicht mehr recht thun kann!"

Sogleich gab er der gänzlich erschöpften Frau, die ihm nicht hätte folgen können, einiges Geld, womit sie sich etwas pflegen und zur Rückreise stärken

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/369&oldid=- (Version vom 5.7.2016)