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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

zogen durch seine Sinne, während das Kind jetzt als lange schön bleibende Weibesgestalt in Lebensreife bei ihm war, wie aus weiter Ferne unversehens herangetreten. Sein großmüthiges Herz stieg in das aufgeregte Hirn empor und schaffte dort in aller Eile an allerlei Bildwerk herum. Violande erschien ihm plötzlich als eine durch Leiden und viele Erfahrung höchst werthvoll gewordene Person, mit der man ein bedeutendes und geheimnißreiches Stück Leben in die Arme schlöße und welcher Heimat und Ruhe zu geben dem Schenker selbst ein goldenes Gut verleihen würde.

Er nahm ihre Hand, streichelte ihr die Wangen und sagte: „Wir sind nicht alt, Violande, liebe Base! Wollt Ihr noch meine Frau werden?" Und da sie ihm die Hand ließ und sich näher zu ihm neigte, von wirklicher Glückesgüte erglänzend, machte er den Brautring seiner ersten Frau, den er seit ihrem Tode an einer Verzierung seines Dolchgriffes trug, los und steckte das Kleinod an Violande's Finger. Sie drückte ihr Gesicht in sein breites blondgraues Löwenantlitz, sie umfingen und küßten sich zärtlich unter den rauschenden Nachtlinden, und der kluge Mann glaubte den Stein der Weisen gefunden zu haben.

In diesem Augenblicke kam Dietegen mit seinen

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/343&oldid=- (Version vom 31.7.2018)