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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

nun aus den Augen der Leute, da sie von einem Haus in's andere in verschiedenen Städten herumzog und nirgends Ruhe fand. Plötzlich, als die Forstmeisterin auf dem Krankenbette lag, erschien sie wieder in weltlicher Tracht zu Seldwyla, und so fügte es sich, daß sie am Todtenmahle dem trauernden Wittwer gegenüber saß.

Sie bezwang ihre Unruhe und sah manche Augenblicke bescheiden und kindlich aus, und als die Frauen sich erhoben und unter sich umhergingen, während die zechenden Männer am Tisch blieben, ging sie auf Küngolt zu, küßte sie und schloß Freundschaft mit ihr. Das Mädchen fühlte sich geehrt durch diese Annäherung einer halbgeistlichen Frau, die weit herumgekommen war und voll Weltkenntniß schien; sie führten sogleich ein langes und vertrautes Gespräch, als ob sie seit Jahren bekannt wären, und beim allgemeinen Aufbruch bat Küngolt ihren Vater, er möchte Violanden in sein Haus berufen, dasselbe zu besorgen, denn sie selbst fühle sich noch zu jung und unerfahren dazu. Der Forstmeister, dessen Stimmung jetzt aus einer wunderbaren Mischung von Trauer und Weinlaune bestand und dessen Gedanken weit abwesend bei der Tobten waren, gab ohne weiteres Nachdenken seine Zustimmung, obgleich er sich nicht

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/330&oldid=- (Version vom 31.7.2018)