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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

von eilf Jahren, dessen Eltern in kriegerischen Zeitläuften verschollen waren und der von der Stadt erzogen wurde. Das heißt, er war einem niederträchtigen und bösen Bettelvogt in die Kost gegeben, welcher das schlanke, wohlgebildete und kraftvolle Kind fast wie ein Haustier hielt und dabei an seiner Frau eine wackere Helferin fand. Der Knabe wurde Dietegen genannt, und dieser Taufname war sein ganzes Hab und Gut, sein Morgen- und Abendsegen und sein Reisegeld in die Zukunft. Er war erbärmlich gekleidet, hatte nie ein Sonntagsgewand besessen und würde an den Feiertagen, wo alles besser gekleidet ging, in seinem Jammerhabitchen wie eine Vogelscheuche ausgesehen haben, wenn er nicht so schön gewesen wäre. Er mußte scheuern und fegen und lauter solche Mägdearbeiten verrichten, und wenn die Bettelvögtin nichts Schnödes für ihn zu thun hatte, so lieh sie ihn den Nachbarsweibern aus gegen Miethsgeld, um ihnen alle Lumpereien zu thun, die sie begehrten. Sie hielten ihn trotz seiner Anstelligkeit für einen dummen Kerl, weil er sich stillschweigend Allem unterzog und nie Widerstand leistete; und dennoch vermochten sie nicht lang ihm in die feurigen Augen zu blicken, wenn er in unbewußter Kühnheit blitzend umhersah.

Vor mehreren Tagen nun war Dietegen gegen

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/288&oldid=- (Version vom 31.7.2018)