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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

sondern sie ihn im Arme hielt und ihm eben einen Kuß aufdrücken wollte, als abermals eine Reihe von Gedanken und Vorstellungen sich in dem Augenblick und in Wilhelms Gemüthe zusammendrängte.

„Das ist also,“ dachte er ungefähr, „das vielgewünschte Glück in Frauenarmen! Nun, schön genug ist’s und gar nicht unangenehm! Gott sei Dank, daß ich mal Eine dicht bei mir habe! Was würde wohl Gritli dazu sagen, wenn sie mich so sähe?“

Zugleich sah er Gritli im Geiste auf der Treppe vor dem Häuschen stehen und dann sitzen. „Wie,“ dachte er, „wenn sie Dich gesucht, wenn sie Dich doch lieb hätte?“ Ein großes Mitleiden mit ihr ergriff ihn, er erschrak ordentlich über seine Hartherzigkeit; kurz, zerstreut und in Gedanken verloren, fuhr er zurück und entzog damit plötzlich und unerwartet seinen Mund dem Kusse, den Aennchen eben darauf absetzen wollte. Er starrte ins Blaue hinaus und sah immer deutlicher Frau Gritlis vermeinte Gestalt, wie sie still vor seiner Thür saß und auf ihn zu warten schien. Dann besann er sich und sagte unversehens zu Aennchen: „Was hatte es denn für eine Bewandtnis mit dem Gruße, den Sie mir das erste Mal, da Sie hier waren, von jener Frau gebracht haben? Und was macht sie, wie geht es ihr?“

„Welche Frau, welcher Gruß?“ fragte sie etwas

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 249. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/257&oldid=- (Version vom 31.7.2018)