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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

Sie trug dieselbe Tracht, nur mit einiger Abwechselung und größerer Einfachheit, wie eine Bäuerin etwa während der Woche zu tragen pflegt, wenn sie über Land geht. Sie trug aber Sorge, daß nichtsdestoweniger Alles gut und reizend saß. Die Haare waren merkwürdigerweise städtisch geflochten und mit einem Tuche bedeckt.

Wilhelm war absichtlich weggegangen und dachte, die sonderbare Schöne, wenn sie wirklich wiederkommen sollte, einen vergeblichen Gang thun zu lassen. Als es aber dunkelte, beschleunigte er mehr als nothwendig seine Schritte, die Wohnung zu erreichen, sei es aus Neugier oder aus dem Bedürfnisse, sich an der scherzhaften Dame zu erheitern. Er traf richtig mit ihr an der Thür zusammen, als sie eben vergeblich gepocht hatte. „Ach, da kommt Ihr!“ sagte sie sanft, „ich habe schon geglaubt, Ihr hättet mich im Stich gelassen! Nun, da bin ich wieder, wenn’s erlaubt ist, ich konnte den Tag über nicht abkommen.“ Er zündete das Licht an und sagte: „Wie steht’s? Habt Ihr noch was behalten vom neulichen Unterricht, oder habt Ihr’s schon wieder vergessen?“ „Ich weiß es selber kaum“, erwiderte sie bescheidentlich und schien überhaupt in einer weichen Stimmung zu sein, so daß der Lehrer wieder nicht aus ihr klug wurde.

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/254&oldid=- (Version vom 31.7.2018)