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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

Bald darauf kam eine andere Frau, welche über eine böse Nachbarin klagte; dann kam ein alter Bauer, der sich das Schnupfen abgewöhnen wollte, weil er es für Sünde hielt; Wilhelm sagte, er solle nur fortschnupfen, es sei keine Sünde, und dieser lobte und pries den Rathgeber, wo er hinkam. Endlich verging kaum ein Tag, wo er nicht solchen Besuch empfing, und alle möglichen moralischen und häuslichen Gebrechen enthüllten sich vor ihm. Am meisten besuchten ihn Mädchen und Weiber, um geheime Briefe von ihm schreiben zu lassen, welchen sie eine besondere Wirkung zutrauten, und sogar abergläubische Leute kamen, denen er gestohlene oder verlorene Sachen wieder verschaffen oder geheimnisvolle Mittel gegen körperliche Uebel oder am Ende gar weissagen sollte. Das wurde ihm denn doch lästig und bedenklich, und er suchte die Bittsteller mit Scherzen oder barschen Worten abzuweisen. Allein nun hieß es erst recht, er habe seine Mucken und stehe nicht Jedem Rede, woran er ganz recht thue. Am liebsten verkehrte er mit Kindern, die in der Schule nicht fortkamen und deren man ihm häufig brachte, so daß sie nachher allein kommen konnten. Mit diesen gab er sich liebevoll ab und war froh, öfter eines oder mehrere um sich zu haben. Er brachte fast alle ins Geleise und erwarb sich dadurch Dank und Ansehen

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 229. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/237&oldid=- (Version vom 31.7.2018)