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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

ein Unterkommen zu suchen, und zwar entschloß er sich in seinem Reumuth, sich in die Dunkelheit zu begeben und als ein armer Feldarbeiter bei den Bauern sein Brot zu verdienen; denn als der Sohn einer verschwundenen Bauernfamilie aus der Umgegend kannte er die ländlichen Arbeiten, denen er sich von Kindesbeinen auf hatte unterziehen müssen. In dieser Absicht wanderte er an einem trüben Märzmorgen über den Berg; als er aber auf die Höhe gekommen, verwandelte sich der feuchte Nebel in einen heftigen Regen; Wilhelm sah sich nach einem Obdach um, da er hoffte, der Regen würde bald vorübergehen. Er bemerkte in einiger Entfernung ein Rebhäuschen, welches zu oberst in einem großen Weinberge stand, am Rande des Gehölzes. Das Vordach dieses Winzerhäuschens gewährte guten Schutz, und er ging hin, sich auf die steinerne Treppe darunter zu setzen. Es war ein malerisches altes Häuslein mit einer Wetterfahne und runden Fensterscheiben. Das Vordach ruhte auf zwei hölzernen Säulen, die Treppe war mit einem eisernen Geländer versehen und bildete zugleich einen Balcon, von welchem man, wenn es schön war, weit ins Land hinein sah, nach Süden und Westen in die Schneeberge. Das Holzwerk und die Fensterläden waren bunt bemalt, Alles jedoch etwas verwittert und verwaschen.

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 213. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/221&oldid=- (Version vom 31.7.2018)