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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

hieng eine lange einzelne Locke weit herunter, während am Hinterhaupte ein dünnes Rattenschwänzchen sich ringelte und mit seiner äußersten Spitze stets dem Kamme und der Nadel zu entfliehen trachtete. Denn steckte man eine Nadel hindurch, so ging es auseinander und spaltete sich in eine Schlangenzunge, und zwischen den engsten Kammzähnen schlüpfte es hindurch, hast du nicht gesehen!

Was ihren Geist betrifft, so war er, wie schon gesagt, ein höherer, was man alsobald aus ihrem Schreiben ersehen wird, welches Viggi zu Hause fand:

„Edler Mann!

Es gibt Lagen, welche uns die Rücksichten der beschränkten Alltagswelt vergessen lassen und selbst dem zarteren Weibe den Muth geben, ja die Pflicht auferlegen, aus sich herauszutreten und seine edelste Teilnahme offen dahin zu wenden, wo verkannte und mißhandelte Männergröße sich in unverdienten Leiden verzehrt. In einer solchen Lage scheine ich Endesunterzogene mich zu befinden, und über alle kleinlichen Bedenken erhaben durch meine Weltkenntniß wie durch meine Bildung, wage ich es daher, mich in der edelsten Absicht Ihnen zu nähern, geehrter Herr! und Ihnen freimüthig diejenigen Dienste anzubieten, welche Ihr Unglück vielleicht lindern können! Längst habe ich die Blüthen Ihres Geisteslebens

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 194. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/202&oldid=- (Version vom 31.7.2018)