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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

Leidenschaft; Jeder wähnt, sich an ein holdes Weib zu richten, während die unwissende, aber lüsterne Teufelin unsichtbar in der Mitte sitzt und ihr höllisches Spiel treibt! O ich begreife es ganz, aber ich fasse es nicht! – Wer jetzt als ein Fremder, Unbetheiligter diese schöne Geschichte betrachten könnte, wahrhaftig, ich glaube, er könnte sagen, er habe einen guten Stoff gefunden für –“

Hier brach er ab und schüttelte sich, da eine Ahnung in ihm aufging, daß er nun selbst der Gegenstand einer förmlichen Geschichte geworden sei, und das wollte er nicht, er wollte ein ruhiges und unangefochtenes Leben führen. – „Wo ist meine Ruhe, meine Fröhlichkeit,“ sagte er, „nur bewegt von leichten Geschäftssorgen, die ich spielend beherrschte? Dies Weib zerstört mir das Leben, nach wie vor; ich hielt sie für eine Gans; sie ist auch eine, aber eine Gans mit Geierkrallen!“

Er lachte und rief: „Eine Gans mit Geierkrallen! das ist gut gesagt! Warum fallen mir dergleichen Dinge nicht ein, wenn ich schreibe? Ich werde noch verrückt, es muß ein Ende nehmen!“

Damit ging er hinaus, schloß das Zimmer ab und begab sich aus dem Hause. Auf der Treppe stieß er das Dienstmädchen zur Seite, welches verwundert und rathlos die Herrschaft suchte.

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/195&oldid=- (Version vom 31.7.2018)