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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

zu führen, und ließ den Dingen ihren Lauf, auf ihre List vertrauend, welche in der Noth schon einen neuen Ausweg finden sollte. Diesmal fügte sie folgende Nachschrift hinzu: Neues weiß ich von hier nichts zu melden, als eine kleine närrische Geschichte, welche ich nicht in den Hauptbrief zu setzen wagte. Der arme Schorenhans vor dem Thore, welcher, wie Du weißt, mehr Witze macht als er Fleisch zu sehen kriegt, sollte jüngsten Sonntag einen schweren Zins nach der Hauptstadt tragen. Weil er fast nichts übrig behielt, um dort einzukehren und etwas zu genießen, so sagte er zu seiner Frau: „Ich werde mich früh um 4 Uhr auf die Beine machen und streng laufen, denn es sind sieben Stunden, so werde ich bis zum Mittagessen eintreffen und wohl einen Teller Suppe und vielleicht auch ein Glas Wein vom Zinsherrn bekommen.“ So that er denn auch und lief mit seinem Gelde wie besessen. Um 10 Uhr ungefähr verspürte er einen solchen Hunger, daß er kaum glaubte, hinzugelangen, und fragte daher die Leute, welche des Weges kamen, wie weit es noch sei? „Wenn Ihr gut lauft,“ hieß es, „so habt Ihr noch eine Stunde!“ Und wann man denn dort Mittag esse? fragte er noch ängstlich. „Am Sonntag um 11 Uhr!“ sagten die Leute. So lief der arme Kerl aus allen Leibeskräften, denn es handelte sich um den langen Rückweg,

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/183&oldid=- (Version vom 31.7.2018)