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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

„Das führt uns vor der Hand nicht weiter! Darum frisch nun das Leben selbst, die schöne Leidenschaft zu Hülfe gerufen! Eine längere Reise werde ich heute antreten, da ich das Herbstgeschäft einleiten muß. Wohlan, wir werden einen Briefwechsel führen, der sich einst darf sehen lassen! Nun gilt es, mein liebes Weibchen, Deine Empfindungen und Gedanken in Fluß zu bringen! Ich werde Dir gleich von der nächsten Stadt aus den ersten Brief schreiben; diesen beantwortest Du im gleichen Sinne. Daß Du mir ja nicht schreibst, das Sauerkraut sei bereits geschnitten und Du habest mir neue Nachthemden bestellt und Du wollest mich am Ohrläppchen zupfen, wenn ich nach Hause komme, und Du habest neulich in meiner Nachtmütze geschlafen und es am Morgen nicht mehr gewußt, sondern darin gefrühstückt, und was dergleichen Trivialitäten mehr sind, die Du sonst zu schreiben pflegst! Nein doch! Ermanne Dich, oder vielmehr erweibe Dich einmal! möchte ich beinahe sagen, d. h. kehre Deine höhere Weiblichkeit hervor, lasse voll und rein die Harmonien ertönen, die in Dir schlafen müssen, so gewiß als in einem schönen Leibe eine schöne Seele wohnt! Kurz, merke auf den Ton und Hauch in meinen Briefen und richte Dich danach, mehr sag' ich nicht!“

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/169&oldid=- (Version vom 31.7.2018)