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bedrückender und die Phantasie qualvoll beschäftigender Anblick! Auf diesem Schüttboden, in dieser noch von keinem Lichtstrahl einer neuen Zukunft erhellten trüben Atmosphäre müssen die Keime krankhaften Nerven- und Seelenlebens leicht und üppig emporschießen. Charakteristisch für die moderne Decadence-Stimmung ist ja genau dasselbe, was die Neurasthenie, die reizbaren Schwächezustände, charakterisiert: der schreiende Gegensatz von Empfinden und Thun, von Wollen und Können, die bis zur Krankhaftigkeit verfeinerte und verzerrte Sensitivität bei krankhaft gebrochenem, unlustigem und versagendem Wollen. „Sie möchten gern und können nicht. Die Decadence ist der Renaissancetraum der psychisch und physisch Geknickten“ – so charakterisiert ein jüngerer kritischer Dramaturg[1] recht zutreffend dieses Epigonentum in der Litteratur, allerdings unter besonderer Bezugnahme auf eine gewisse Neu-Wienerische Abart; und wer möchte diesem Zeugnisse nicht in der That für die Geistesprodukte einzelner – übrigens feinsinniger und talentbegabter – Autoren eine gewisse Berechtigung zugestehen, ohne dabei zu verkennen, daß diese Autoren zumeist in ausländischen, skandinavischen, französischen, italienischen Mustern ihre Ur- und Vorbilder finden? Wer möchte überhaupt so manchem Produkte der heutigen Litteratur, der bildenden Künste und selbst der Tonkunst das gleiche bedenkliche Prädikat innerer Krankhaftigkeit, das Prädikat der Schwäche bei hochgesteigerter und unglaublich verfeinerter Sensitivität – mit einem Worte, das neurasthenische Ursprungszeugnis versagen? Selbst an den höchsten und mit Recht verehrtesten Kunstschöpfungen unserer Zeit macht sich dieser pathologische Zug nur zu oft auffällig geltend – so sehr, daß wir ihn schon fast als ein notwendiges, zur Steigerung der Wirkung unentbehrliches Ingrediens hinzunehmen geneigt werden. Ich vermeide es, Beispiele zu nennen; jeder wird sie aus der eigenen Lektüre, aus dem Besuche unserer Theater, unserer Konzertsäle und Kunstausstellungen leicht genug herausholen.




Fragen wir uns nun nach den vorausgegangenen Erörterungen: wenn denn doch die Krankheitsursachen und die Mittel und Wege der Heilung so offen liegen, woher kommt es, daß dieses aufs innigste zu wünschende Ziel dennoch so überaus häufig verfehlt und nur bei einer kleinen Minderheit von Nervenkranken thatsächlich erreicht wird? Gerade mit dieser praktisch so wichtigen Frage beschäftigt sich eine vor kurzem erschienene kleine Schrift, die, von einem selbst nervenleidenden Arzte herrührend, wohl berufen erscheint, auch Nichtärzte mit dem Gegenstande vertraut zu machen und ihnen, soweit es dessen bedarf, die richtigen Wege zu weisen.[2] Ich möchte dieses sehr beachtenswerte Schriftchen um so mehr zur Lektüre empfehlen, als ich selbst nur kurz auf die Frage hier einzugehen imstande bin. Es sind der Klippen äußerst viele, an denen eine erfolgverheißende Behandlung Nervenkranker nur zu häufig scheitert; und man muß leider sagen, daß daran keineswegs bloß die Schwere der Krankheit und die Unvollkommenheit der zu Gebote stehenden Heilverfahren schuld trägt – sondern in noch höherem Grade die von den Kranken selbst und von ihrer Umgebung begangenen Fehler und Mißgriffe.

Zunächst wird – wie der Verfasser der genannten Schrift mit Recht hervorhebt – oft viel zu spät mit der Kur begonnen, sei es aus Leichtsinn, sei es aus der den Kranken dieser Art überhaupt eigenen Energie- und Entschlußlosigkeit; sei es endlich, weil die Kranken sich überhaupt gar nicht krank, oder doch nicht krank genug, oder durch ihre Krankheit sogar besonders interessant fühlen. Kommt es dann doch endlich zu Kurversuchen, so fehlt es an der zu ihrer Durchführung erforderlichen Ausdauer; der mit diesen nervösen Schwächezuständen so eng zusammenhängende Mangel an Stetigkeit und zielbewußter Folgerichtigkeit des Wollens und Handelns macht sich auch hier in verhängnisvoller Weise bemerkbar. Die Kranken sind schon enttäuscht und verzweifelt, wenn ein Heilerfolg, der doch in der Regel nur das Ergebnis ausdauernder, viele Wochen und Monate fortgesetzter Bemühungen sein kann, sich nicht augenblicklich einstellen will; sie ziehen von einer Anstalt zur andern, von einem Arzte zum andern, oder noch häufiger vom Arzte zum Wunderthäter, zum Magnetiseur und Kurpfuscher; sie erwarten überhaupt in fatalistischer Weise alles von den gegen ihr Leiden zu Hilfe gerufenen fremden Einflüssen und Einwirkungen, statt, wie es die Sache erforderte, vor allem die eigene Selbstthätigkeit im Kampfe gegen das Leiden mit aufzubieten. Fast ebenso zu fürchten wie die Unstetigkeit und Veränderungssucht der meisten dieser Kranken ist es übrigens, wenn sich einmal ein Kranker – oder in diesem Falle gewöhnlich eine Kranke – an den Arzt zu sehr attachiert und dann die Krankheit behält, um nur den Arzt nicht zu verlieren! – Beinahe noch schlimmer als das Ausbleiben des erhofften Erfolgs muß es bei dem Temperament mancher Kranken auch wirken, wenn sich im Beginn einer neuen Behandlung oder, wie nicht selten, bei veränderter Lebensweise sofort eine über die Erwartung hinausgehende Besserung bekundet. In solchem Falle wähnen die Kranken nur zu leicht, schon über alle Schwierigkeiten hinaus zu sein, und werden durch die bei der Natur ihres Leidens und zumal bei der Rückkehr in ungünstige Außenverhältnisse unausbleiblichen Rückfälle ganz und gar niedergeworfen und entmutigt. Kaum minder groß ist natürlich die Enttäuschung derer, die auf irgend ein marktschreierisch angepriesenes Universalheilmittel, eine wunderthätige Panacee, hereinfallen, wie sie die Anzeigeblätter täglich zu vielen Dutzenden im unverschämtesten, aber auf die Kritiklosigkeit und naive Gläubigkeit des Publikums wohlberechneten Reklamestil ihren Lesern vorführen. Gescheite und auf „Bildung“ Anspruch machende Leute sollten von Rechts wegen wissen oder doch ahnen, daß man sie betrügen will, wenn man ihnen von Universalmitteln und Allheilverfahren überhaupt redet, und wenn man ihnen im unfehlbaren Prophetentone sichere und baldige Heilung bei so schweren, jeder Berechnung spottenden, von Veranlagung und äußeren Lebensverhältnissen in so hohem Grade abhängigen Krankheitszuständen ankündigt. Die Heilungsmöglichkeit hat überhaupt doch ihre nicht überschreitbare Grenze! So manche Kranke dieser Art müssen sich von vornherein klar machen – oder es müßte ihnen rechtzeitig klar gemacht werden –, daß sie darauf angewiesen sind, sich mit ihrem Zustande abzufinden, mit ihren „Nerven“ ein Kompromiß zu schließen; sie müssen sich die dafür erforderliche Lebensweisheit, die Ergebung in das Unvermeidliche anzueignen versuchen; sie müssen auf mancherlei Gewinne und Ziele, die dem normal Veranlagten offen stehen, freiwillig Verzicht leisten, um für die noch verbleibenden Glücksaussichten und bescheidenen Befriedigungen freien Spielraum zu schaffen. Das ist freilich sehr viel gefordert; sehr mächtige und keineswegs an sich unberechtigte und unrühmliche Triebfedern der menschlichen Natur wirken solchen schroff hingestellten Forderungen nur zu häufig entgegen. Nicht bloß der Ehrgeiz, nicht bloß das Hängen an gesellschaftlichen Eitelkeiten aller Art, sondern auch Gefühle der Pflichterfüllung, des Ausharrens auf dem einmal eingeschlagenen Lebenswege, des intimen Verwachsenseins mit einer zum Bedürfnis gewordenen Thätigkeit, der Amts- und Berufstreue. Dem Drängen des ärztlichen Beraters auf Fernhaltung seelischer Aufregungen, auf Absperrung aller dazu führenden Quellen in Berufsarbeit und gesellschaftlichem Leben wird häufig entgegengehalten, daß das Leiden ja doch ein rein körperliches sei und mit Gemütsaffekten, mit seelisch-geistigen Alterationen nicht im Zusammenhange stehe. Wie irrig diese Vorstellung ist, haben wir schon früher gezeigt; sie ist aber nicht nur in der Laienauffassung begründet, sondern wird hier und da selbst von Aerzten, die z. B. die Erscheinungen der Hysterie in einseitiger Weise auf Erkrankungen der weiblichen Geschlechtsphäre zurückführen, bestärkt und befördert.

Dem gegenüber muß nochmals entschieden betont werden, daß seelisch-geistige Beruhigung gerade das Erste und Notwendigste ist, was im Interesse derartiger Kranken zu geschehen hat, und was für alle sonstigen Einwirkungen erst den unentbehrlichen Untergrund hergiebt. Es darf also damit nicht gewartet werden, bis das oft mühsam aufrecht erhaltene Gebäude jählings

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 887. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0887.jpg&oldid=- (Version vom 31.8.2020)
  1. „Hans Sittenberger, Studien zur Dramaturgie der Gegenwart. Erste Reihe: Das dramatische Schaffen in Oesterreich.“ München, C. H. Beck.
  2. „Warum werden die Nervenkranken nicht gesund? Eine kurze allgemeine Belehrung für die Kranken und deren Umgebung von Dr. med. Engler.“ Landsberg a. d. Warthe, Selbstverlag des Verfassers, 1899.