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positiven Vorschriften durch negative von ebenso großer oder noch größerer Wichtichkeit – wie ja fast überall im Leben die Verbote eine noch wichtigere Rolle spielen als die Gebote, und bekanntlich schon die zehn Gebote der Mehrzahl nach aus Verboten bestehen. Die Liste alles dessen, was im Interesse einer vernünftigen Nervenhygieine schon im kindlichen und jugendlichen Alter zu „verbieten“ wäre, dürfte vielleicht so lang werden wie Leporellos Register. Was gehört da nicht alles hinein! – oder vielmehr was gehört nicht alles an Unvernünftigem und Unhygieinischem aus der Kinder- und Jugendsphäre heraus! – von dem nachgemachten „Tokayer“, den man kaum einjährigen Kindern als vermeintliches Stärkungsmittel kredenzt, herauf bis zum Biertrinken und Tabakrauchen der Gymnasiastenjahre! – vom Korset, in das thörichte Mütter schon die unreifen Körper ihrer sechs- oder siebenjährigen Töchter einpressen, bis zu den verfrühten Theater-, Konzert- und Ballgenüssen des kaum aus der Pubertätsentwicklung heraustretenden Backfisches! – Muß schon unter gewöhnlichen Umständen, bei normal veranlagten Kindern, Haus und Familie aufs peinlichste die gebotenen Pflichten erfüllen, alles thun und vermeiden, um bedrohlichen Schädigungen vorzubeugen, so gilt das selbstverständlich in noch weit höherem Grade überall da, wo es sich um angeborene, ererbte, krankhafte nervös-seelische Veranlagung handelt. Und gerade hier versagt die häusliche Erziehung am leichtesten und häufigsten – nur allzubegreiflich, weil eben Eltern und Anverwandte dieser krankhaft veranlagten Kinder auch ihrerseits der zu erzieherischer Einwirkung unumgänglichen Eigenschaften nur zu häufig ermangeln!

Unter solchen Umständen soll nun die obligatorische Schulerziehung ergänzend und ersetzend eintreten. Kann sie das? Erwägen wir doch, um was es sich handelt! Charakterbildung – Entwicklung des Denkens, des Verstehens und Urteilens und eines daraus entspringenden festen, selbständigen Wollens – das ist es, was wir brauchen und was wir als Schutzwehr gegen die früher oder später hereinbrechende Flut der Nervosität bei unserer Jugend aufrichten müssen; nicht aber einseitige Anhäufung von Kenntnissen, von allerlei, innerlich fern und fremd bleibendem Wissensstoff oder gar totem Gedächtniskram, wie ihn die heutige Schule leider nur zu massenhaft bietet! Es läßt sich nicht verkennen – so ungern ich dies auch ausspreche – daß die Schule teils durch die ihr vielfach anhaftenden hygieinischen Mängel, teils durch die Art und Weise des üblichen Lehrbetriebs in gewissem Sinne eine wahre Brutanstalt für künstliche Züchtung und Hervorrufung von Nervosität darstellt – wie denn auch die in verschiedenen, zum Teil recht schweren, typischen Formen auftretende „Schulnervosität“ ein den Nervenärzten längst bekannter und geläufiger Begriff ist.[1] In- und ausländische Statistiken ergeben an manchen Orten, namentlich in Großstädten, eine geradezu schreckenerregende Häufigkeit derartiger Zustände, die wesentlich auf die von einsichtsvollen Aerzten und Pädagogen längst dargelegten Mängel des Unterrichtsbetriebs zurückgeführt werden müssen. Ich will die vielbesprochene „Ueberbürdungsfrage“ hier nicht weiter berühren. Gewiß läßt sich zu Gunsten der Schule den oft erhobenen Anschuldigungen gegenüber manches entlastende Wort sagen; eine Einschränkung der Ziele, ein Ziehen festerer und engerer Grenzen den einmal angenommenen Bildungsansprüchen gegenüber ist schwer durchzuführen; der Erwerb dieser „Bildung“ und der damit nach unseren Lebensanschauungen verknüpften Rechte und Privilegien erheischt und verdient Opfer. Aber auf Kosten der körperlichen und geistigen Gesundheit der nachwachsenden Generation sollten und dürften diese Opfer doch nicht gebracht werden; sonst müßte das damit Errungene in den Augen unverblendeter Beurteiler als zu teuer erkauft gelten! Das schulmäßige Wissen ist, wie die Dinge heutzutage liegen, für den Einzelnen wie für die Gesamtheit jedenfalls weit entbehrlicher als bestimmte, oft nur auf Kosten des Wissensumfanges zu erwerbende Charaktereigenschaften, als Mut, Entschlossenheit, Energie, deren Vorhandensein dem Leben des Einzelnen wie dem nationalen Gesamtleben erst höheren Wert giebt. Es ist ein treffendes, wenn auch zum Populärwerden in unserer bildnngswütigen Zeit nicht sehr geeignetes Wort Bismarcks, daß man unter Umständen auch den Mut der Unwissenheit haben müsse! Wenn nun das Haus seine Erziehungspflichten nur zu oft sträflich verabsäumt, die Schule vielfach sich auf bloße Wissensspendung beschränkt, so liegen die Aussichten in dieser Beziehung, wie es scheint, ziemlich trübe. Freilich wird sich der Hoffnungsfreudige auch darüber hinaus noch weiter vertrösten können. Nicht bloß Haus und Schule erziehen ja an uns, sondern als Dritter in diesem Bunde vor allem das „Leben“! Das ist ebenso unbestreitbar wie andrerseits die Erfahrung, daß das „Leben“ nur zu vielen von uns ein recht schlechter, ein jedenfalls sehr grausamer und harter Lehrmeister ist, der mit der überwiegenden Mehrheit seiner Zöglinge wenig Ehre einlegen kann und so manchen von ihnen in Nerven- und Geisteszerrüttung, nicht wenige in Verzweiflung und freiwilligen Tod treibt. Die stetig anwachsende Ziffer der Nerven- und Geisteskranken, die Häufung der schwersten Formen von Geisteskrankheit im jugendlichen Alter und beim weiblichen Geschlechte, die anschwellende Statistik der Selbstmorde bekunden deutlich genug, was wir von den Einflüssen des modernen Lebens nach dieser Richtung zu halten haben. Wer hier nicht schon mit sicheren Schutzwaffen ausgerüstet hereintritt – oder von der gütigen Fee nicht das alles ausgleichende und ersetzende Patengeschenk des Glücks in die Wiege gelegt erhalten hat – der hat bei den immer höher geschraubten socialen und wirtschaftlichen Anforderungen, in dem immer erbitterter geführten Daseinskampfe wenig Aussicht, sich zu behaupten und ohne die schwersten Wunden und Narben sein Lebensziel zu erreichen. Um so größere und dringendere Veranlassung also, diese Schutzwaffen schon beizeiten zu rüsten und beständig zu schärfen!

Aber noch ungleich gefahrvoller als die ringsum drohenden äußeren Schwierigkeiten und Hindernisse sind die von uns selbst heraufbeschworenen inneren Kämpfe und Stürme, die Qualen der Leidenschaft, die Sorgen und Aufregungen, Zweifel und Reue – alle die verwüstenden und zerstörenden, negativen Mächte, für die leider in unseren Tagen keine tröstende und aufrichtende, positive Weltanschauung das Gegengewicht bildet. Denn von einer solchen sind wir, trotz aller Versuche und Anläufe, ferner als je. Wir haben uns längst damit abgefunden, daß eine allgemein giltige, objektive Wahrheit nicht existiert oder uns wenigstens nicht zugänglich ist, und daß jeder Weltanschauung, wie hoch- oder tiefstehend sie uns auch erscheine, doch im Grunde nur eine einzelpersönliche, subjektive Bedeutung zukommt. Diese subjektive Bedeutung ist für ihren Träger allerdings hoch genug zu bewerten; dem Einzelnen kann seine Ueberzeugung, sein Glaube, je nach dessen Stärke und Beschaffenheit, entweder zu einer unversiegbaren Quelle lebendiger Kraft und innerer Freudigkeit oder zur Ursache düsterer Trostlosigkeit und Enttäuschung werden. Leider ist nun die in unserer Zeit in weiten Kreisen vorherrschende Weltanschauung – soweit man ein solches Wort auf die gangbaren Ansichten und Meinungen überhaupt anwenden darf – weit geeigneter zur Erzeugung schlaffer Resignation und hoffnungsloser Verzagtheit als schwellenden Kraftgefühls und hochgemuter Befriedigung. Die „Decadence“-Stimmung, die „fin de siècle“-Stimmung, und mit was für anspruchsvollen Ausdrücken wir sonst noch das uns nur zu oft beschleichende, niederdrückende Gefühl innerer Schwäche und Haltlosigkeit in selbstgefälliger Epigoneneitelkeit herausputzen – dieses ganze traurige Selbstbekenntnis nervös-seelischen Siechtums verweist deutlich auf eine in den höchsten Regionen des Geisteslebens aufzufindende Lücke.

Aus dem Mangel an tiefwurzelnden Ueberzeugungen und Idealen, aus der Glaubens- und Autoritätslosigkeit unseres modernen Bewußtseins entspringt jene unselige innere Leere und Oede, die so viele Existenzen zur Zerrissenheit und Ohnmacht verurteilt, das Leben so vieler zu einer großen Lüge oder bestenfalls zu einer Kette von Halbheiten und Kompromissen, von verfehlten Anläufen und nichtigen Aufregungen gestaltet. Unsere Zeit hat nicht bloß mit ihren technischen Fortschritten die alten Naturgewaltcn überwunden und in ihren Dienst gezwungen, sondern sie hat auch ungeheure Gedankenernten eingebracht, sich ganz neue und ferne Geisteswelten erobert – ohne freilich bisher für eigene innere Befreiung und Befriedigung davon Nutzen zu ziehen. Vorläufig liegen noch rings herum die Ruinen aller gestürzten Gedankengebäude der Vergangenheit aufgehäuft, mit ihrem Schutt- und Trümmergeröll ein unerfreulicher, das Gemüt

  1. Vgl. meinen Aufsatz „Ueber Schulnervosität und Schulüberbürdung“, „Gartenlaube“ 1896, Seite 176.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 886. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0886.jpg&oldid=- (Version vom 22.1.2021)