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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

geben lassen. In den ganz kleinen Städten ist guter Unterricht oft schwer zu erlangen.“

Das war alles! Ich war empört. Ich weiß ja, daß ich nicht viel Schule habe, aber es ist mir doch immer gesagt worden, ich hätte eine sehr schöne Stimme – und nun war dies alles!

„Vorläufig, Fräulein Karstadt, müssen Sie Ihr Fräulein Nichte ein wenig in die Schule nehmen, da kann sie schon recht viel lernen,“ meinte eine andere Dame, „es wäre doch schade um die niedliche Stimme, wenn sie nicht weiter ausgebildet würde.“

„Helmi und ich wollen Duette miteinander üben; ich hoffe, daran werden wir beide Freude haben,“ sagte Tante, mich freundlich ansehend.

„O,“ rief Anneliese, „das mögen Sie wohl, Fräulein Lafrenz!“ Es klang beinahe ein bißchen neidisch.

„Aber nun, Fräulein Karstadt, bitte, bitte!“ tönte es von allen Seiten.

„Was soll’s denn sein?“ fragte Tante.

„O, was Sie wollen –wonach Sie gerade gestimmt sind!“

„‚Das Veilchen‘,“ sagte Herr Harrang leise, „oder singen Sie das nicht mehr?“

Komisch – Tante wurde rot, sie wurde wirklich rot. Es stand ihr gut, wie die lichte, feine Farbe so langsam bis an ihr hübsches Haar hinaufstieg – aber warum wurde sie rot? Es lag ja gar kein Grund dazu vor.

„Ich habe es sehr, sehr lange nicht gesungen,“ sagte sie leise und sah an uns allen vorbei in den Garten hinunter. Es war etwas sonderbar Sanftes dabei in ihren Augen.

Aber dann stand sie auf, ging ruhig in das Zimmer hinein und setzte sich an das Klavier, erst nur probierend, ob ihr die Begleitung noch geläufig wäre, und dann sang sie „Das Veilchen“ von Mozart, wie es Herr Harrang gewünscht hatte:

„Ein Veilchen auf der Wiese stand,
Gebückt in sich und unbekannt;
Es war ein herzigs Veilchen!“

Es ist ja ein ganz altmodisches Lied, gar nicht auf der Höhe der Zeit. Wenigstens hatte ich das gedacht, als Herr Harrang verlangte, Tante sollte es singen. Ich konnte überhaupt die klassischen Komponisten ebenso wenig ausstehen wie die klassischen Dichter. Aber wie es nun aus dem dämmerigen Nebenraum zu uns herausscholl, meinte ich auf einmal, ein so holdes und anmutiges Lied noch nie gehört zu haben. Ja, hold, das war gerade das richtige Wort, und ich muß es nur gestehen, bei dem letzten wehmütigen:

„Das arme Veilchen!
Es war ein herzigs Veilchen!“

kamen mir Thränen in die Augen.

Was war das nur? War das Lied, welches ich doch gut vorher kannte, an sich allein so entzückend schön, oder war es Tantens Art, zu singen, die es mir auf einmal so neu und lieblich machte? Sicher ist, daß Tante sehr schön sang, ich glaube, so schön wie eine wirkliche Künstlerin. Ich kann nicht sagen, was es war, was einem das Herz so bewegte, nur – es war dasselbe sonderbar Sanfte, was vorhin in ihren Augen gelegen hatte, und das ich nicht verstand.

Dann hörten wir, wie sie den Deckel des Klaviers sachte schloß, aber es dauerte noch ein Weilchen, bis sie zu uns zurückkehrte. Als sie dann kam, sagten alle irgend etwas Schmeichelhaftes, nur Herr Harrang sagte nichts. Ob es ihm nicht gefallen hatte? Ich weiß es nicht. Er saß und sah an uns allen vorbei in den Garten hinab, wie Tante Renate vorhin, und klopfte mit den Fingerspitzen seiner schlanken, kräftigen Hand leise auf die Brüstung der Veranda.

Sie wollten dann alle, Tante sollte noch mehr singen, doch setzte sie sich ohne weiteres wieder auf ihren Platz, und dann kam auch das Eis. Ich aber, – ja, ich fühlte mich für ein paar Minuten ganz klein.

Nachher machten noch alle miteinander einen Spaziergang durch den hübschen Garten, und dann gingen wir nach Hause. Herr Harrang, der sich noch ein wenig Bewegung machen wollte, wie er sagte, begleitete uns, Tante Renate und mich, bis an unsere Thür. Unterwegs sprach er mehrfach mit mir, leider nur ganz unbedeutende Dinge, über das Wetter und dergleichen. Aber er konnte ja noch nicht wissen, daß ich auch andere, tiefere Interessen hatte, z. B. auch selbst malte. Um das Autogramm wagte ich vorläufig noch nicht zu bitten; es eilte ja auch nicht damit. Vielleicht, so dachte ich mir, würde er es mir später von München aus auf einer Ansichtspostkarte schicken, wenn ich mit meiner Bitte wartete, bis wir uns etwas besser kannten.

Beim Abendbrot fragte mich Tante, ob ich mich gut unterhalten hätte, und ich erzählte ihr, wie ich mich freute, nun einen berühmten Maler zu kennen, da ich vorher noch nie einen berühmten Menschen gesehen hätte, ausgenommen einmal Bismarck von der Rückseite – wenigstens glaubte ich, es wäre Bismarck gewesen.

Tante lachte. „Ganz so berühmt wie Bismarck ist Herr Harrang nun allerdings nicht,“ sagte sie und schenkte den Thee ein, „dafür hast du von ihm ja aber auch mehr gesehen als den Rücken.“

„Kennst du ihn schon lange, Tante?“ fragte ich neugierig, „kanntest du ihn schon, als er noch nicht berühmt war?“

„Ja, schon lange – ich kannte ihn ein wenig, als ich jung war, Kind – damals war er nichts weniger als berühmt, und es sind nun viele Jahre vergangen, seit wir uns zuletzt gesehen haben.“

„Findest du ihn nicht auch reizend?“ fragte ich.

Wieder lachte Tante. „Nein, ich finde durchaus nicht, daß das die richtige Bezeichnung für ihn ist, und es kommt mir auch nicht so vor, als wenn er sich dieses Prädikates gerade sehr freuen würde, wenn er es hörte. Indessen, wissen kann man es ja immerhin nicht.“

Dann fing sie an, von etwas anderem zu sprechen, und ich dachte bei mir, sie wäre doch gerade so altmodisch wie Mutter, die auch immer meinte, daß ich zu überschwengliche Ausdrücke gebrauche. Nun ja, über andere Herren ist man vielleicht besser etwas zurückhaltend, aber wenn jemand berühmt ist, da darf man ihn doch wohl reizend finden.

Natürlich sagte ich aber nichts dergleichen zu Tante. Aeltere Leute haben für die Begeisterung der Jugend so oft kein Verständnis!

Sie fragte mich dann noch, wie mir die anderen Gäste gefallen hätten, und als ich erklärte, die kahlen Köpfe und die Brillen der Herren hätte ich scheußlich und die Gespräche langweilig gefunden, sagte sie belustigt: „Das ist nur natürlich. Eine Vorliebe habe ich auch nicht gerade für Brillen und kein Haar. In mehreren von den kahlen Köpfen steckt aber eine ganz anständige Portion Verstand und Witz, Helmikind! Doch es ist wohl kaum zu verlangen, daß du das schon würdigen solltest!“

O, da irrte sie doch! Ich verstand wohl, Geist und Witz zu würdigen, aber ein wenig Beachtung verlangt man doch von den Menschen. –

Uebrigens zeigte Mutter diesmal auffallenderweise für meine Auffassung der Ausnahmenaturen ein merkwürdiges Verständnis. Am nächsten Tage schickte ich nämlich meinen ersten ausführlichen Bericht nach Hause, wobei ich natürlich auch von Herrn Harrang erzählte, wenn auch vorsichtigerweise in sehr gemäßigten Ausdrücken.

Und siehe da, Mutier antwortete umgehend, und Herr Harrang, den sie offenbar auch von früher her kannte, schien sie außerordentlich zu interessieren. Sie fragte nach allem, was ihn betraf, sehr eingehend, z. B., ob er verheiratet wäre, was er nicht war, und sonst noch mehr, was ich gar nicht beantworten konnte. Außerdem erkundigte sie sich sehr beflissen, wie Tante jetzt eigentlich aussähe, worum sie sich doch früher nie im mindesten beunruhigt hatte. Aber Mutter ist manchmal so eigen.

Ein paar Tage später fand das verabredete Picknick wirklich statt und verlief aufs beste. Mehr als dreißig Damen und Herren, junge und alte bunt durcheinander, hatten sich dazu vereinigt. Ich trug mein weißes Kleid mit rosa Schleifen und den runden Strohhut mit dem Feldblumenkranz. Ich bin nicht eitel, aber ich glaube, daß ich sehr vorteilhaft aussah.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 855. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0855.jpg&oldid=- (Version vom 2.6.2023)