Seite:Die Gartenlaube (1899) 0842.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

nicht als Landolo, sondern im Mädchenkleid – in einem etwas zu eng gewordenen Kleid. In Chur ist sie ausgerüstet worden für das Fest in Zürich. Sie hat einen leichten Hut aus feinem Stroh bekommen.

Und jetzt wandelt sie in neuem Gewand neben dem Vater durch die kleine alte Stadt.

Nichts Duftigeres als Jolande im einfachen hellen Sommerkleid, die dunklen Augen im schmalen Gesicht, dessen Stolz und Kühnheit weiche Züge der Jugend mildern!

Die Leute stehen still, sie flüstern: „Der König der Bernina und seine Tochter – sie ist wie eine Prinzeß.“

Jolande aber erduldet Qualen: zu lange hatte sie Knabenkleider getragen, und die Firnen und Gletscher fehlen ihr, die Hitze im Thal ist drückend, und die Neugier der Leute thut ihr weh.

Das Kind der Berge in einer Stadt – selbst nur in einer kleinen Stadt!

„Ich will heim, Vater – zwinge mich nicht! Auf das große Fest mag ich nicht gehen!“

Mit wahrer Pein sagt es Jolande.

Noch säumt der bestellte Unterhändler. – Da kommt an seiner Stelle ein Brief, Markus Paltram möge die Gemsen an den Bodensee bringen.

„Gut – so gehe heim, Jolande!“

„Darf ich die schönen Kleider tragen?“

„Die andern sind zu schlecht – trage sie.“

Es fand sich für sie die Gelegenheit, ein Stück Weges zu fahren. Und der Wagen rollte in herrlicher Sommerfrühe über Churwalden zum Lenzerheidsee, dann bergab.

Da holte er einen jungen Wanderer ein, der, das Ränzlein auf dem Rücken, voll Fröhlichkeit am Knotenstock fürbaß schritt.

Er war gut gekleidet, die Mütze und das farbige Band über der Brust verrieten den Studenten.

Er rief den alten Fuhrmann an.

„Hättet Ihr etwas Raum für mich bis Tiefenkastel? Ich kann sonst noch genug gehen – mein Ziel ist Puschlav. Es kommt mir auf einen Neunuhrschoppen mit Imbiß nicht an!“

Und halb verlegen, halb keck grüßte er das schlanke Mädchen mit großer Höflichkeit.

Seine blauen treuherzigen Augen und sein frisches, fröhliches Gesicht gefielen ihr. Eben darum aber wollte sie seine Gesellschaft nicht, und ihre Augen baten den Fuhrmann, daß er den Jüngling abweise.

Aber der alte Fuhrmann hieß ihn aufsteigen, und schweigend ging die Fahrt eine Weile. Wie sie jedoch um eine Felsenecke kamen, stieß der Student einen Jauchzer aus. Denn vor ihnen lagen in Glanz und Gloria die Albulaberge und hoben die weißen Häupter in den blauen Himmel.

„Alt frei Bündnerland – was geht darüber!“

Da zog der alte Fuhrmann die Pfeife aus dem Mund, klopfte die Asche daraus und begann zu plaudern.

Und heimatfroh erzählte der Jüngling, der gewiß das zwanzigste Jahr noch nicht überschritten hatte, von langen Wanderfreuden.

Jolande mischte sich nicht in das Gespräch – in herber Unnahbarkeit blickte sie streng und stolz.

Und der Jüngling wagte, obgleich er große Lust dazu zeigte, nicht, das stolze Mädchen anzureden.

Da fragte der Fuhrmann: „Und wen habt Ihr in Puschlav zu besuchen?“

„Meine Mutter – Frau Cilgia Gruber, oder wie sie das Volk nennt: Frau Cilgia Premont!“

Schöne Sohnesfreude klang aus seinen Worten.

Jolande Paltram erglühte bei diesem Namen. Sie dachte an das Bild der Frau, das der Vater wie das einer Heiligen verehrte.

O, sie wußte es wohl, mitten in der Nacht trat er manchmal vor dieses Bild. Das Geheimnis seines Lebens hing mit ihm zusammen. Was für ein Geheimnis das war, darüber hatte sie sich manchmal den Kopf zerbrochen – es mußte ein schönes sein!

Sie sah in Gedanken die herrliche Frau, die einst am Thor von Santa Maria gesessen, die sie geliebkost und von der sie in kindlicher Einfalt gewünscht hatte, sie möchte ihr Mutter sein!

Und das war der Sohn, das war der Knabe, mit dem sie einst zu Pontresina gespielt.

Die Herbigkeit auf dem schmalen Mädchengesicht verlor sich.

„Ludwig Georgy, der Maler, hat mir viel Schönes von Eurer Mutter erzählt.“

Das bebte silberhell hervor, und das kleine Lächeln, was das Lieblichste an Jolande war, spielte um ihr Mündchen.

„Wer seid Ihr, daß Ihr Ludwig Georgy kennt?“ fragte der Jüngling etwas verlegen.

„Jolande Paltram!“

Da wurde er erst recht neugierig und teilnahmvoll. Das Eis war gebrochen – die jungen Reisenden plauderten und waren überrascht, als sie schon in Tiefenkastel anlangten.

Sollten sie sich trennen, da nun ein so langer gemeinsamer Weg vor ihnen lag?

Der Fuhrmann blieb zurück, sie aber wanderten durch den schönen Sommertag in die firnenüberleuchtete Gebirgswelt des Albula und die Wildwasser rauschten und die Blumen glänzten in den Felsen.

Und die Stimmen der Einsamkeit redeten um sie.

Seltsam schön berührt von der Begegnung, schritt Jolande rasch und leicht wie eine Gemse neben ihrem Kameraden. Sie sprach wenig, aber sie lauschte dem frohmütigen Geplauder ihres Reisegefährten mit ganzem Ohr.

Von ferner Stadt erzählte der Student, von Hoffnungen und Plänen.

„Und eigentlich ist Euer Vater schuld, daß ich Arzt werden will – Chirurg wie er! Der Gedanke kam mir, als ich von seinen Heilungen hörte.“

Mit Wärme sprach es der Jüngling – die Wangen des Mädchens erglühten, die junge Brust hob sich freudig, und verstohlen hingen ihre Blicke an ihm.

Sie wurde schweigsamer und schweigsamer, in herber Keuschheit verschloß sie ihre Gedanken. Doch das Wenige, was sie sagte, klang klug und gütig. Und Stimme und Lächeln gaben ihm Reiz.

Etwas wie Heimweh nach der sonnigen Welt der Menschen, von der ihr Gefährte plauderte, hatte sie überfallen – sie, die doch schon das kleine Chur mit den vielen Menschen bedrückt hatte.

„Ich bin nur eine Jägerin – aber wenn Ihr so redet, hätte ich auch Lust, etwas Größeres zu werden.“

Sie sagte es bitter wie in Selbstbeschämung.

So wanderten sie durch ein Meer rotglühender Alpenrosen, durch den stillen innigen Frühling des Hochgebirges, durch das Gebet der Primeln und Männertreu und der Fransenglöckchen der Soldanellen.

Und aus stahlblauem Himmel rief ein Adler sein „Pülüf – pülüf!“

Sittig wanderten sie wie je nur zwei Menschenkinder durch Gottes strahlende Welt gegangen sind. Und der junge fröhliche Student wollte Jolande wohl nichts mehr sein als ein guter Kamerad.

Sie aber wurde immer unruhiger – sie wußte selbst nicht warum.

Das junge Wanderpaar rastete am „Weißen Stein“, und als das schlichte Mahl beendet war, wurden sie einig, daß sie, ob es darüber auch Mitternacht würde, bis nach Pontresina gehen wollten.

Sie würden nicht müde, versicherte eines das andere.

Halbwegs zwischen der Paßhöhe und dem Engadin überfiel sie die Dämmerung: über fernen blassen Gipfeln aber stieg der volle Mond auf und goß sein Silberlicht in die Berge, in den schweigenden Hochgebirgswald, auf die rauschenden Wellen, auf den einsamen Weg.

Keine Menschenseele weit und breit, in den Adern aber singt das junge Blut sein Lied, und Wort verlangt nach Wort.

Und Jolande Paltram war nicht mehr schweigsam – um so stiller ihr Gefährte.

Mit einem Anflug von Uebermut erzählte sie von den Jagdgängen mit ihrem Vater, mit brennendem Kindesstolz von seinen Rettungsthaten, von seinen Erfolgen. „Und dennoch haben ihn böse Menschen verleumdet!“

Mit steigendem Wohlgefallen sah der Jüngling die Glut

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 842. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0842.jpg&oldid=- (Version vom 7.2.2023)