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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Als sie sah, daß die Schachtel geöffnet war, erschrak sie wohl, nahm aber seine Entschuldigung mit freundlichem Lächeln auf: „Es schadet nichts.“

„Es ist gewiß von zu Haus,“ sagte er, in krampfhaftem Bemühen, die Unterhaltung noch ein wenig hinzuziehen.

Da nickte sie eifrig. „Ich hab’ mich so gebangt, als ich nicht den kleinsten Gruß vorfand. – Wenn man zum erstenmal so allein ist am Heiligabend …“ sie errötete plötzlich über ihre Redseligkeit – was mußte er nur denken?

Er aber griff die Worte hastig auf.

„Ganz verlassen kommt man sich vor,“ bestätigte er in komischer Verzweiflung, „und immer muß man nach Haus denken, wie sie nun wohl alle um den Christbaum sitzen, wie jedes seine Geschenke betrachtet … Das ist ein Küssen und Händedrücken, ein Jubeln und Lachen …“

„Und doch auch wieder so feierlich,“ setzte sie ernsthaft hinzu. Sie hatte ihm mit leuchtenden Augen zugehört, gerade so war’s ihr selbst zu Mute gewesen.

„Wollen Sie sich nicht einen Augenblick setzen?“ Sie deutete schüchtern auf einen Stuhl; er war doch ihretwegen die drei Treppen heraufgestiegen.

Dankbar nahm er den Sitz an.

Wie gemütlich es hier oben war! Hinter allen Bildern steckten grüne Zweige, das Theetischchen war gefällig gedeckt, und dort am Fenster stand wahrhaftig auch ein Bäumchen und ein weißer Wachsstock daneben. Alles wie bei ihm, nur noch eine Nummer kleiner, bescheidener.

Sie war seinen Blicken gefolgt. „Das Bäumchen hab’ ich mir gestern selbst mitgebracht. Es ist hübsch gewachsen,“ sagte sie, die Zweige auseinanderbiegend, „und ich hatte mich darauf gefreut, es anzuputzen. Wie aber so gar nichts da war von Mütterchen, da ist mir die Lust vergangen … es hätte mich doch nur traurig gemacht.“

„Darf ich Ihnen die Lichtchen schneiden, Fräulein Berger?“

Er stellte den Hut hin und holte eifrig sein Taschenmesser hervor. „Da, sehen Sie – es klebt noch Wachs daran: ich habe vorhin für mein eigenes Bäumchen einen Wachsstock zerteilt. Nun habe ich eine Fertigkeit darin – großartig, sage ich Ihnen!“

Nach sekundenlangem Zögern holte sie lächelnd den Wachsstock und reichte ihn dem Assessor hin. „Wenn’s Ihnen Freude macht,“ sagte sie freundlich.

„Wie kommt es, daß Sie keinen Urlaub haben, Fräulein Berger?“ fragte er, eifrig arbeitend. „Dürfen Sie sich nicht einmal zu Weihnachten die kleine Erholung gönnen, heim zu fahren?“

„O doch, man hat es mir sogar angeboten. Aber Mutters Wohnort ist weit von hier und Reisen kostet Geld. Die Ausgabe wäre zu groß gewesen für meinen kleinen Beutel.“

Sie sagte es mit einer ruhigen Selbstverständlichkeit, die ihm weh that. Wieviel Sorgen und Entbehrungen, wieviel Leid und Not waren wohl nötig gewesen, die junge Seele dort zu solch entsagender Weisheit zu erziehen!

Ein Weilchen stand sie neben ihm, seiner Arbeit zusehend, dann ging sie zum Fenster und schaute hinaus. Es hatte wieder angefangen zu schneien, die Flöckchen wirbelten gegen die Scheiben und türmten sich dann auf dem Fensterbrett zu einer kleinen Mauer auf. Tief unten aber, im engen Hausgärtchen, hatten sie Wege und Stege längst verwischt, aus der glatten, weißen Fläche ragten nur noch die Büsche mit dicken Schneekappen hervor.

„Wie schön muß es jetzt draußen im Lande sein,“ meinte das Mädchen träumerisch.

„Von unserem Stübchen aus können wir meilenweit über die Felder sehen, und die Obstbäume reichen mit den Zweigen bis an die Fenster. Hier sieht man nur Häuser und immer wieder Häuser …“

Wie sehnsüchtig ihre Stimme klang.

„Sie sollten einmal in den Tiergarten gehen, Fräulein Berger,“ sagte er, fleißig an seinen Lichtchen schnippelnd, „da ist’s jetzt märchenhaft schön!“

Sie schüttelte traurig den Kopf. „Wann denn? In der Woche hab’ ich nicht Zeit zum Spazierengehen und Sonntags, da sind so viel geputzte Menschen überall …“

Sie brach ab und sah erschrocken zu ihm hinüber. Das Messer war ihm tief in die Hand geglitten, und nun quoll das Blut in großen Tropfen hervor.

„Thut’s weh?“ Sie beugte sich mit blassem Gesichtchen über seine Hand, und dann lief sie zur Kommode und holte ein kleines Bündel weißer Lappen hervor.

„Gutes, altes Leinen,“ versicherte sie wichtig. „Mutter hat’s mir für alle Fälle mitgegeben. Sie sollen sehen, das hilft gleich!“

Mit flinken Fingern riß sie Verbandstreifen ab, tauchte ein Läppchen in kaltes Wasser und band es um den verwundeten Daumen.

Er hatte ihr lachend wehren wollen, aber dann war’s ihm doch ein eigentümlich wohliges Gefühl gewesen, sie so um sich beschäftigt zu sehen und die Fingerchen zu betrachten, die vor lauter Schreck und Mitgefühl förmlich zitterten.

Als der Verband kunstgerecht fertig war und sie die Enden des Fadens, in Ermangelung einer Schere, schnell entschlossen mit ihren spitzen Zähnchen durchbiß, faßte Assessor Berger mit raschem Griff nach ihren Händen.

„Danke schön, Fräulein Klärchen!“

Sie war ganz rot geworden und trat einen Schritt von ihm fort.

„Aber bitte! Thut’s auch gewiß nicht mehr weh?“

Dann kam es ihr zum Bewußtsein, wie lange er nun schon hier sei und wie sonderbar überhaupt dieser ganze Besuch war, und was Frau Prieke wohl denken würde.

Er merkte ihr die peinlichen Gedanken an, sie waren gar so deutlich auf ihrem Gesichtchen geschrieben.

Seufzend stand er auf. Die Aussicht, den Rest des Abends allein zu verbringen, hatte wenig Verlockendes, und überhaupt – sie war solch süßes Geschöpfchen, zurückhaltend und zutraulich zugleich …

„Fräulein Klärchen, ich habe eine große Bitte! Sagen Sie einmal Ja!“

Mit scheuen Augen sah sie zu ihm auf. Was wollte er nur?

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 819. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0819.jpg&oldid=- (Version vom 1.6.2023)