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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

nur möglich! Aber freilich, um die Weihnachtszeit, und wenn man im selben Hause wohnt …

Denn Straße und Hausnummer stimmten, nur daß Fräulein Berger im Hintergebäude drei Treppen hoch wohnte. Er fing an, sich für die Fremde zu interessieren, die seinen Namen trug und vom Zufall mit ihm in dasselbe Haus verschlagen war. Sonderbar, daß er sie nie gesehen hatte! Wahrscheinlich benutzte sie immer den Seiteneingang, denn er konnte sich nicht besinnen, ihr jemals begegnet zu sein.

Nun, Dorchen würde schon Auskunft geben können, die kannte die Familienverhältnisse aller Hausbewohner bis ins dritte und vierte Glied.

„Dorchen!“

„Herr Assessor!“ Mit eiligen Schritten kam sie den langen Gang heruntergelaufen, daß die Holzabsätze der Pantöffelchen nur so klapperten. Für den Herrn Assessor, da ging sie durchs Feuer, so ’n artiger, netter Herr, wie das war! Und heute, nach dem schönen „Weihnachten“, den er ihr in die Hand gedrückt, wäre sie auch zu einer größeren Dienstleistung gern bereit gewesen.

Ganz atemlos kam sie an. „Wünschen der Herr Assessor etwas?“

„Ja, Dorchen,“ er zeigte auf das mysteriöse Paket, „mir ist da eine sehr unangenehme Geschichte passiert. Der Postbote hat die Pakete verwechselt und mir eins gebracht, das für ein Fräulein ‚Klara Beraer‘ im Hinterhause bestimmt ist.“

„Ach ...“ Dorchen trat interessiert näher.

„Kennen Sie denn das Fräulein?“

„Na und ob,“ Dorchen war förmlich gekränkt, „das ist ’was Feines, Herr Assessor, wenn sie auch nur Directrice in einem Putzgeschäfte ist. Auf hundert Schritt sieht man’s ihr an, daß sie ’ne Dame ist, und wenn sie auch noch so freundlich grüßt, abgeben thut sie sich mit keinem!“

„Ja, aber das Paket, Dorchen …?“

„Geben Sie’s mir, Herr Assessor! Ich trag’s rüber und bestell’ ’ne schöne Empfehlung von Ihnen: der Postbote hätt’s verwechselt.“

Dorchen band sich diensteifrig die Schürzenbänder fest und griff nach der Schachtel.

„Nein, warten Sie, Dorchen. – Das geht doch nicht!“

Adolf Berger zog unschlüssig den weichen blonden Schnurrbart durch die Finger. „Das geht auf keinen Fall! Ja, wenn ich’s nicht geöffnet hätte, aber so … Lassen Sie’s gut sein, Dorchen, ich gehe selbst.“

Er machte sich allerlei im Zimmer zu schaffen, um Dorchens erstauntes Gesicht nicht zu sehn.

„Da müssen der Herr Assessor aber über den Hof und dann wieder drei Treppen in die Höhe,“ sagte Dorchen, die des Assessors Antipathie gegen unnötiges Treppensteigen kannte. „Sie wohnt bei den Buchbindersleuten.“

„Schön! Fräulein Berger ist am Ende noch gar nicht zu Hause.“

„Doch!“ widersprach Dorchen eifrig. „Vor einer halben Stunde ist sie gekommen, und blaß sah sie aus, in ihrem schwarzen Mäntelchen. Lieber Gott, so ’n junges Ding und ganz allein am Heiligabend! Und nun nicht mal ’n Paket von zu Haus!“

Dorchen war ganz Rührung, als sie dem Assessor, der im Nebenzimmer schnell den Rock gewechselt hatte, in den Ueberzieher half. „Die erste Thür links, Herr Assessor, und tüchtig klingeln – wenn der Mann bei der Arbeit ist, überhört er’s oft.“

Die Pappschachtel sorgsam unter dem Arm, ging Adolf Berger über den beschneiten Hof. Es war und blieb eine fatale Sache, dem jungen Mädchen das geöffnete Paket zu überbringen. Aber vielleicht hatte sich Dorchen doch geirrt und sie war noch nicht zu Hause – die Geschäfte schlossen ja erst spät heute.

Er sah scheu an den Wänden des Hinterhauses empor. Drei Treppen hoch waren zwei Fenster erhellt, und an dem einen glaubte er einen Schatten zu entdecken, als ob dort, hinter der Gardine versteckt, eine Frau lehne, eine schmale, schlanke Gestalt.

Nachdenklich ging er die Treppen hinauf. Eigentlich war’s ein rechter Unsinn, daß er selbst gegangen war. Dorchen hätte das ebenso gut und besser besorgen können, und schließlich bekam er noch spitze Bemerkungen von der kleinen Putzmamsell. Denn was die „Dame“ anbetraf – man kannte das ja …

Die Treppen ächzten leise unter seinem Schritt.

„Verdammte Höhe!“ brummte der Assessor ärgerlich. „Hätte ich mir ersparen können!“

Aber endlich war er oben und zog die Klingel, erst leise, dann, Dorchens Weisung eingedenk, noch einmal energischer.

Eine ältliche Frau in großer Hausschürze öffnete und behielt die Thüre halb in der Hand, den vornehmen Besuch neugierig musternd.

„Was steht zu Diensten?“

„Ist Fräulein Berger vielleicht zu Hause?“

Adolf Berger ärgerte sich, wie unsicher seine sonst so kräftige Stimme klang, und fuhr in unmotivierter Heftigkeit fort: „Ich habe dem Fraulein ein Paket zu überbringen, das fälschlich bei mir abgegeben worden ist!“

„Bitte,“ sagte die Frau und deutete auf die nächste Stubenthür. „Klopfen Sie man dreist an, das Fräulein is g’rad’ von’s Geschäft heimgekommen.“

Und dann sah sie hinter ihm her.

„Hübscher Mann; und pikfein! Daß aber unser stilles Fräulein so ’ne Bekanntschaften hat …“

Kopfschüttelnd schloß sie die Thür hinter sich, indes der Herr Assessor bescheiden klopfte.

„Herein …“ Es klang sehr leise, dies Herein, als würde es von einer thränenverschleierten Stimme gerufen.

Und dann stand Adolf Berger, den Hut in der Hand, auf der Schwelle der kleinen Hinterstube und machte seine ehrerbietigste Verbeugung.

„Verzeihen Sie, mein Fräulein, daß ich es wage, Sie aufzusuchen …“ er begriff seine Dreistigkeit nun selbst nicht mehr, „es ist da eine Verwechslung vorgekommen … Ich heiße nämlich auch Berger … Assessor Berger“ – eine abermalige Verbeugung – „und da wir in demselben Hause wohnen …“

Sie hatte ihn mit keinem Worte unterbrochen. Still und blaß stand sie unter der kleinen Hängelampe, die Hände auf die Tischplatte gestützt und den Kopf gesenkt, daß der volle Lichtschein auf ihren blonden Flechten lag.

Assessor Berger meinte, nie etwas Holderes, Rührenderes gesehen zu haben als dies schmale Gesichtchen unter dem goldenen Heiligenschein.

„Gestatten Sie,“ er trat zögernd einen Schritt näher, „daß ich Ihnen hier Ihr Paket …“

„Ach, Gott sei Dank!“ Eine kleine Hand streckte sich ihm entgegen, und die Augen, mit denen sie ihn nun ansah, hatten wirklich geweint.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 818. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0818.jpg&oldid=- (Version vom 1.6.2023)