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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Wenigstens eine Rose blühte auf dunklem See!

Sie war überzeugt: Ludwig Georgy hat Talent – viel Talent – nur etwas ernsthafter, meinte sie, müsse er noch werden.

Und sie herzte ihren Lorenz: „Bube, daß du mir auch etwas Rechtes wirst!“


15.

Der Frühling kam – der traurigste Frühling des Engadins.

Die letzte Jugend, die den Dörfern geblieben war, zog aus, die einen als Zuckerbäcker, die andern als Angestellte von Bündnercafés in weiten Städten und Landen. Noch andere als Lehrlinge in Kaufmannsgeschäften, einige vielleicht auch wahllos auf gut Glück.

Manche kamen nach einigen Jahren wieder und holten sich aus den zurückgebliebenen Mädchen der Dörfer Frauen, und selbst die weibliche Jugend verlor sich aus dem Thal.

Draußen, in der Welt zerstreut, blühte ein neues Engadin, im Thal aber herrschte das Grauen über die Entvölkerung, denn die einmal fortgegangen waren, kehrten nicht zurück. Was sollten sie in der Heimat suchen?

Ja einige – das war der größte Schmerz der Alten – wurden aus Geschäftsvorteil Bürger fremder Länder.

Wohl sangen die Abziehenden das Lied Konradins von Flugi:

„Dir halt’ ich Treue wie dem Kind
Der Bursch’ die Treue hält,
Der Fischer seinem Boot im Wind,
Das mit ihm steht und fällt.“

Aber das Lied klang den Zurückbleibenden wie Hohn in die Seele.

Die zerfallenden Dörfer waren stumm – viele hatten Mühe, ihre Aemter zu besetzen, denn es fehlten die Männer – und Trauer im Herzen, zog man auf die Landsgemeinde. Mit dumpfer Verzweiflung spürte man es: die Auflösung des Lebens im grünen Hochthal war da. Bald leuchteten die blauen Seen nur noch wenigen Hirten.

Doch gerade in dieser Zeit der äußersten Not hoben die Anhänger des Alten, die österreichische Partei im Bündnerland, die Köpfe. Napoleons Stern war im Sinken – die Reiche, die er gegründet, im Wanken, und nicht nur im Bündnerland, überall in der weiten Welt sprach man von der Wiederherstellung der alten Ordnung und der alten Rechtsverhältnisse. Da mußte doch von Gott und Rechts wegen das Veltlin auf Grundlage der alten Verträge wieder zu Rhätien geschlagen – der Gewaltstreich des Korsen gutgemacht werden.

Man sprach von einem großen Diplomatenkongreß zu Wien, der kommen würde – man rechnete auf die Fürsprache Oesterreichs – auf den Gerechtigkeitssinn der Könige – man wollte frühzeitig genug eine Gesandtschaft in die österreichische Hauptstadt senden, um die Ansprüche Bündens zur Geltung zu bringen.

Und in ihren Träumen lebten die alten Engadiner schon wieder als Herren des Veltlins, wie ehedem – sie waren nicht nur die Regenten im blühenden, fruchtbaren Thal – sie saßen auch wieder wochenlang auf den ihnen widerrechtlich entzogenen Privatgütern – sie fuhren im Herbst zur Weinlese und nahmen von ihren Pächtern den größern Teil der Ernte – und das Engadin war wieder, was es vor der Revolution gewesen war: eine Hochburg vornehm herrenbäuerlichen Lebens in Mäßigkeit und Genügsamkeit, mit den Freuden der Landsgemeinde, der ländlichen Schützenfeste, der Schlittenfahrten und der tollen Fastnacht. Die verderbliche Auswanderung kam dann von selbst zum Stillstand.

Das waren die großen Hoffnungen der Alten.

An ihrer Spitze stand der würdige Landammann, der in seinen jungen Jahren den Glanz des Hofes zu Wien gesehen hatte und ein unerschütterliches Vertrauen in das Wohlwollen Oesterreichs für das Bündnerland und in die Gerechtigkeit des Kaisers setzte. Hinter ihm alle die aristokratischen Bauern und Viehhändler von St. Moritz, dem wohlhabenden Dörfchen auf sonniger Höhe. Und das waren harte Köpfe, ihre Losung: „Wieder das Alte – aber nichts Neues!“

Zwischen dem Landammann und Konradin aber herrschte schwerer Disput. Auch Konradin kannte die Diplomatie, und er traute alten Briefen nicht.

Der Vater grollte: „Ohne meine Erlaubnis ist er heimgekommen, wider meinen Willen hat er sich mit Menja Melcher, der Tochter des alten Widersachers, verlobt! Alles, was ich nicht will, thut er, der Schwärmer, der Poet – der Plebejer – der Revolutionär!“

Der starre Landedelmann hatte sich nie entschließen können, die Gedichte seines Sohnes zu lesen, wenigstens gab er nicht zu, daß er je nach den Versen gelangt – er kenne nur einige davon durch Cilgia. – Aber vielleicht blühte doch in einer versteckten Falte seiner Brust etwas Vaterstolz.

So glaubte wenigstens die wackere Mutter.

Die Gedichte Konradins lebten in allen Häusern, sie waren der Trost des Volkes, das sie mit Erhebung las, nach ihnen wie zur Postille und Chronik griff, wenn es seine Kinder Lesen und Schreiben lehren wollte. Sie gingen mit den Ausziehenden, in ihrem Klange grüßten sich die Engadiner in der Fremde.

Und oft ertönte in die Stille der Nacht eines dieser Lieder. Irgend ein Säumer sang es zur Kurzweil auf einsamem Weg.

Gewiß, das Volk machte sich aus den Liedern mehr als aus dem Dichter. Denn keusch und sparsam ist es in seinem Lob. Von Angesicht zu Angesicht rühmt es keinen, und zu viel traut es einem Verseschmiede nicht.

Aber man horchte doch, wenn Herr Konradin sprach, und legte Wert auf seine Worte.

Nur zu Einem schüttelten die Leute die Köpfe bedenklich: ein Bad, das viele tausend Gulden kostet, will er aus St. Moritz machen. Das paßt zu den Straßen, die man baut und auf denen niemand fahren wird!

Konradin von Flugi aber war voll heiligen Eifers, und der ehemalige Bund der Jugend stand mit männlicher Kraft am Werk.

„Du darfst dich nicht zu weit vorwagen,“ mahnte Lorsa seinen Freund, „wegen deines Vaters nicht!“

Und die Freunde verabredeten, daß Lorsa die Führung vor den Bürgern übernehme. Im stillen warben sie Genossen und hofften, daß in der Maiengemeinde zu St. Moritz eine Mehrheit der Bürger die Errichtung des Bades bewillige.

Aber die Freunde trauten der Gemeindeversammlung nicht ganz: „Der Landammann reißt uns im letzten Augenblick mit der Macht seines Ansehens und der Gewalt seiner Beredsamkeit die Mehrheit hinweg!“

„Die Gemeinde ist durch alte Uebung auf den Tag nach dem großen Markt von Tirano festgesetzt. Wenn wir es einrichten könnten, daß er hinüberritte, mit ihm die hartköpfigsten unserer Bauern – daß sie sich verspäteten und die Gemeindeversammlung ohne sie abgehalten werden könnte!“

Und viele Wochen hindurch sprach niemand mehr von der Errichtung eines Bades in St. Moritz.

Im füllen aber spann sich ein Spiel kühner Bündnerverschlagenheit über die Berge.

Jeder Viehhändler, jeder Bauer bekam seinen Anlaß, auf den Markt in Tirano zu gehen. Jung und alt von St. Moritz wollte über den Berninapaß reiten.

„Man kann die Maiengemeinde nicht abhalten – der Landammann sagt es,“ so ging die Rede.

Was aber den feierlichen, feinen Landammann bewegte, nach Tirano zu gehen?

Ein Brief Cilgia Premonts. In ihrem Haus würde am Tag nach dem Markt die Schule von Puschlav eingeweiht. Es würde die Puschlaver freuen, wenn das Engadin die alte Freundschaft für den Flecken dadurch bezeigte, daß einige angesehene Engadiner daran teilnähmen. Als besondere Ehre würde man es empfinden, wenn der Landammann selbst zu der Einweihung kommen wollte. Er befinde sich in guter Gesellschaft – Pfarrer Taß und Melcher kämen auch.

„Melcher – ja, wenn Melcher hinübergeht, ist keine Gefahr!“

Und eine amtliche Einladung des Podesta gab derjenigen Cilgias Nachdruck.

Aber ein gewisses Mißtrauen blieb dem alten Herrn.

Als indessen am Maitag auch die Jugend des Dorfes über die Bernina zog, da war der Landammann sicher, daß keine Ueberrumpelung stattfinden werde.

Fortunatus Lorsa selber ritt über den Berg.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 807. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0807.jpg&oldid=- (Version vom 7.2.2023)