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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

der sonst zum Transport des Korbes dient, frei in der Luft. Mit dem gebogenen Griff eines Schirms, den er in der Rechten hält, löst er die Stricke aus den Haken. Ein sonderbares Bild auf 3800 Meter Meereshöhe.

Anderthalb bis zwei Minuten dauert das Abenteuer, aber ich möchte sie nicht wieder erleben. Der Mann, der da unten schwebt, hat vor Arbeit 48 Stunden nicht mehr geschlafen, und ich spüre es in meinen Armen und auf der Brust – die 40 Kilo, die der Anker wiegt, sind in dieser Höhe ein entsetzliches Gewicht.

Ist aber auch nur der eine schwach, so ist es fast sicher der Tod aller dreie.

Jetzt ist der Ballon zum Abstieg bereit – doch was für ein wunderbares Schauspiel bietet jetzt die Erde. Als seien sie aus dem Boden gestiegen, haben Scharen silberner Lämmer sie bedeckt, die an den Flußläufen ziehen. Sie verdichten sich, sie schließen sich zusammen, wir schweben über einem Nebelmeer, wie über einem frisch aus Silber getriebenen Teller, über einem lichten Ocean, aus dem noch einige dorf- oder burggekrönte Hügel wie Inseln ragen.

An manchen Stellen ist aber der Flor so dünn, daß wir das darunter liegende Land noch wie eine halb ertrunkene Welt erkennen und die Umrisse der Gegenden wie eine blasse Wasserzeichnung in den Wolken erscheinen.

Und nun geben wir uns doch noch eine Weile den Bildern dieses schönen Fabelreiches hin.

Tief unter den Nebelflächen und tiefer als die Bilder der Erde wandelt ein zweiter Ballon, das Spiegelbild des unsrigen, das mit ihm durch eine lange senkrechte Schnur, den Guiderope, verbunden scheint.

Immer bilderprächtiger werden die Wolken! – Jetzt ist der ganze Horizont eine merkwürdige schöne Arena, ein aus Nebelspinnweb gebautes Kolosseum von vollendeter Symmetrie, und die unermeßliche Rundung erscheint wie mit Seidentüchern ausgeschlagen, die ohne spürbaren Uebergang vom Blaudunkel der Tiefe zu einem rosadurchhauchten perlmutternen Rand aufsteigen. Auf der Brüstung dieser Arena sitzen da und dort wie die Silberäffchen einer Menagerie weiße kleine Wolken und staunen in den Himmel, dessen Kuppel sich in azurenem Sammet wölbt.

Allmählich füllt sich die Luft unter uns mit vereinzelten Wolken, die über das halb durchsichtige Nebelmeer der Tiefe wie weiße Segel über einen See hinwegziehen und in reizenden Regenbogenfarben erglühen.

Wir schweben über ein stilles, glanzerfülltes Märchenland, das kein Wort zu schildern fähig ist.

Jetzt ist die Täuschung vollkommen, daß wir – wie der arme verschollene Andree – über den Landschaften des Nordpols treiben. Da giebt es Gletscherküsten mit blauschillernden Abbrüchen, gefrorne Felder, auf die man aussteigen möchte, um Schlittschuh zu laufen, in blauen offenen Buchten treiben Eisberge und mächtige Schollen türmen sich im Spiel eines leisen Windhauches.

Jedes Fächeln der Luft ruft eine Revolution hervor unter den leichten Gebilden.

Die weite See schäumt auf, es strudeln Katarakte, weiße Berge zerfließen, andere erbauen sich und umfangen uns plötzlich, als wäre die „Wega“ in eine Gletscherspalte geraten; ja sie schließen uns wie eine Halle ein, durch die das Licht der Grotte von Capri flutet. Im nächsten Augenblick steckt der Ballon im kalten feuchten Nebelgrau, wir lassen ihn ein wenig steigen, da dämmert von oben das Licht, und die Sonnenstrahlen, die durch einen Wolkenriß leuchten, werfen den Schatten der „Wega“ riesengroß an eine Nebelwand. Wir grüßen das Ballongespenst, das auf einem weißen Wolkenhintergrund mit unsern eigenen ins Gigantische verzerrten Gestalten, von einem großen Regenbogenkreis, dem Heiligenschein der Luftschiffer, umgeben, auf- und niederhüpft. Wir recken einen Finger, da langt aus dem Schattenkorb ein Riesenarm, wir lachen über das tolle Spiel – und horch – die Wolkenwände werfen unsere Stimmen zurück – ein kleines Lied – nahe und ferne hallt es wieder, als wären hundert Sänger in den Wolken verborgen! Meer und Alpen, Unter- und Ueberirdisches erlebt sich in dem Märchenland.

Plötzlich aber lacht durch einen gewaltigen Riß wieder die sonnige, wirkliche Welt.

Ueber zwölf Stunden sind wir nun Ballon gefahren. Was für eine Strecke wir aber über den Wolken zurückgelegt haben, wissen wir nicht, wir haben jede Orientierung verloren und die Gegend unter uns kennen wir nicht. Auf einer freundlichen Höhe schimmert ein altertümliches Städtchen. Von ihm her und aus den Dörfern der weiten Umgebung erklingen die Glocken, die zum Morgengottesdienst rufen. Vor dem Städtchen, dem wir entgegenfahren, liegt ein breites, frisches Wiesenthal, durch das sich an einem Weiler vorbei ein Bächlein schlängelt.

Die Uferwiesen wären ein prächtiger Landungsplatz. Und nun ist es die eigenartige Geschicklichkeit Spelterinis: aus entlegener Höhe wählt er die Stelle, wo sein Ballon landen soll – und an der Stelle, die er ausgelesen hat, landet er.

Die Wiese neben dem Weiler!

Durch das weit geöffnete Ventil lassen wir das Gas, die Lebenskraft der „Wega“, strömen, daß ihr Riesenleib aus der Kugelform in eine schlanke Birne zusammenfällt. Sie stürzt – die Erde fliegt uns entgegen, die Gegend wird plötzlich nachbarlich.

Ehe wir uns versehen, steht die „Wega“ so tief über den Dächern des Dörfchens, daß der Guiderope sie schon berührt.

Ballast, den wir auswerfen, mäßigt den Fall. Aus den Häusern kommen schreiend die überraschten Bewohner geeilt. Wir rufen ihnen zu: „Bitte, ergreifen Sie das Seil und ziehen Sie uns dort auf die Wiese!“

Einen Augenblick der Verwirrung noch, dann verstehen sie unsern Wunsch – und mit „Hurra!“ leiten uns dreißig oder fünfzig Leute auf den günstigen Landungsplatz.

„Bitte, zeigen Sie uns aber die Maschine, die da drinnen verborgen ist!“ ruft ein steinalter Mann und weist auf die Seide der „Wega“.

„Da ist keine Maschine drin,“ erklärt ein anderer, „vor Paris haben wir einen niedergeschossen – ja, das haben wir – da war er nur Zeug und Luft!“

Uns interessiert am meisten, wo in der Welt wir eigentlich sind.

„Unser Dörfchen heißt Holzhausen an der Efze und das Städtchen auf der Höhe ist Homberg bei Kassel!“

Es war eine schlichte, einfache Bevölkerung, unter die wir bei unserer glücklichen Landung traten, geschwärzte Arbeiter aus einem nahen Eisenhüttenwerk und sonnverbrannte Bauern, viele von ihnen nur in Hose und Hemd und barfuß. Aber wir widmen ihrer Hilfsbereitschaft, ihrem verständigen Zugreifen beim Leeren und Packen der „Wega“, der bescheidenen Art, wie sie die angebotene Entschädigung annahmen, eine freundliche Erinnerung.

Während sie mit dem Kapitän am Werke waren, ergoß sich von Homberg herunter ein Strom von Neugierigen, die die „Wega“ hatten aus den Wolken sausen sehen, und ihre Hülle war schon längst in den Korb verpackt, als aus der weiten Umgebung die letzten, die den Abstieg des Ballons bemerkt hatten, auf dem Platz erschienen.

Mit welchem Wonnegefühl betritt man nicht nach einer zwölfstündigen Ballonfahrt die mütterliche Erde! – Am glücklichsten war wohl unser junger Wiesbadener, der seine Wette – ich glaube, es handelte sich um etliche Flaschen Champagner – mit Schmerzen gewonnen hatte.

Im Verhältnis zum Zeitaufwand ist der Weg, den die „Wega“ damals zurückgelegt hat, ein überaus kurzer, denn Homberg liegt von Wiesbaden in gerader Linie nur etwa 150 Kilometer entfernt.

Aber ein großes Erlebnis für die Teilnehmer ist die Fahrt doch! – Sie zählt zu den erhebenden Stunden des Lebens, wo die Seele den Staub aus den Schwingen schüttelt! J. C. Heer.     


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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 799. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0799.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2023)