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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Da fällt mir Wiesbaden ein – und plötzlich kommt es mir: „Du bist im Ballon, du hast im Ballon geschlafen!“

Angenehm war mir die Entdeckung gewiß nicht, ein irdisches Gemach, wo ich mich noch einmal hätte wenden können, wäre mir in diesem Augenblicke lieber gewesen als das immerhin nicht gewöhnliche Abenteuer, die freien Lüfte zum Kopfkissen genommen zu haben.

Im dünnen Strom des ersten Morgenlichts stehen meine Genossen am Korbrand.

„Du bist der einzige, der mir je auf einer Fahrt eingeschlafen ist,“ lächelt der Kapitän.

„Haben Sie keine Nerven?“ fragt der Wiesbadener, der vor Uebernächtigkeit blaß wie eine Leiche ist.

„Versuchen Sie’s – nur eine Viertelstunde Schlaf wird auch Ihnen wohl bekommen!“

Und nun nickt auch er ein.

„Wo sind wir?“ frage ich den Kapitän.

„Ja, das weiß ich selbst nicht, aber aus dem Taunus wenigstens sind wir schon lange glücklich heraus. Der Ballon geht gut.“

Im fahlen Licht des Morgens, unter reinem hellblauen Himmel dehnt sich in weiten niedrigen Wellen eine herrliche Waldlandschaft, ein Meer von Wipfeln, das von Oasen wohlbestellter Felder unterbrochen wird. In leichten Thalfurchen schimmern mattsilberne Fäden von Bächen, stille Gehöfte und Dörfer, in denen das Leben noch nicht erwacht ist, ducken sich in die Falten des Hügellandes. An den Rändern der Wälder äsen die Rudel der Rehe, Hirsche heben schnuppernd ihr stolzes Geweih und der langgezogene blökende Ruf ihrer Kälber ist der einzige Laut in der großen Morgenstille. Wo sind wir? – Die niedrige Kette des Taunus am fernen Horizont, Bussole und Landkarte weisen es uns.

Die „Wega“ zieht über Oberhessen.

Sonnenaufgang! – Aus einer schwachen Röte des Horizontes rollt die Kugel frei und stolz empor. Wie eine Flamme fliegt der erste Strahl über den Taffet und das Tauwerk des Ballons; es ist, als brenne er, seine Wölbung strahlt, als sei sie eine riesige Sonne, und die Seile, an denen der Korb hängt, erflimmern wie in eigenem Licht.

Wo ein Dorf, wo ein Schloß auf leichter Anhöhe steht, erglüht es rosenrot, die Wälder, die wie große Schatten auf der Landschaft lagen, leuchten grüngoldig auf, die Welt schmückt sich mit Farben, die Thäler und Berge treten mit überraschender Schärfe ins Relief.

Herzlich erfreuen wir uns an dem wärmenden Strahl, denn während der Nacht ist die Luft empfindlich kühl geworden.

Wie eine Landkarte, die sich langsam auf wagerechten Bändern entrollt, gleiten die Gegenden unter uns dahin, wir blicken auf die Stadt Gießen, auf die romantischen Schlösser an der Lahn und auf das alte Wetzlar, das die Erinnerung an Goethe weckt. Bei einem der Dörfer, die da unten im Sonntagsmorgenfrieden träumen, bei Garbenheim, liegt wohl noch das Gehöft, wo Werther seine Lotte zuerst sah, „ein Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes Kleid mit blaßroten Schleifen an Arm und Brust anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot, und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab.“

Litterarische Reminiscenzen im Luftballon! – Rasch decken die wechselnden Bilder die Erinnerungen aus der Schulbank.

Das Leben erwacht im tiefen Land, ein Lokomotivenpfiff gellt vom Silberfaden der Lahn empor, die Frühglocken erklingen, da und dort steigt über einem Dach ein blaues Räuchlein in die Luft, an den Dorfbrunnen tränken die Bauern ihr Vieh und vor einer Mühle steigen Müller und Müllerin zur Sonntagsfahrt in den bespannten Wagen.

Auch unsere „Wega“ schüttelt die Starrnis der Nacht von sich. Die Sonne hat den Tau, der sich reichlich an ihre Hülle gesetzt, aufgesogen, in der steigenden Tageswärme spannt sich knisternd der schlaffe Taffet, und fauchend entweicht eine Menge überschüssigen Gases als blauer Rauch aus der unteren Oeffnung des Ballons.

Wie steigt das Schiff, das die ganze Nacht mit mattem Flug über die Landschaft dahingeschlichen ist! Ohne unser Dazuthun hat die „Wega“, von der Sonne gestärkt, die Kraft eines Adlers erlangt.

Die Nähe taumelt zurück, die Aussicht spannt die Schwingen.

Und Plötzlich flüstert der Kapitän: „Wir sind bereits dreitausend Meter überm Meer!“

Unermeßlich ist im Sonntagsmorgenglanz der Gesichtskreis; uns ist, wir überblicken ganz Deutschland, weit über Taunus und Thüringerwald gleiten die Augen hinaus, und unwillkürlich spähen wir in die Fernen, ob wir nicht das Silberband des Meeres oder die Silberstirnen der Alpen zu erschauen vermögen.

Unendlich aber dehnt sich nur das in breiten Wellen schwimmende Land – Mitteldeutschland, mit hundert flimmernden Städtepunkten, aber fast ohne Linien – nichts als eine von den blauen Tönen der Luft gedämpfte Riesenlandkarte.

Und immer noch sinkt das Aneroid – steigt die „Wega“ rasend – minutenlang ziehen wir die Ventilleine – das Gas rauscht aus dem Ballon – aber im nächsten Augenblick strafft er sich schon wieder unter der Wirkung der Sonne, die als eine weißglühende, augenversengende Kugel im Osten steht – die „Wega“ steigt zum indigoblauen Himmel!

Sie trägt mit allem, was an ihr ist, ein Gewicht von rund 1600 Kilo. Ihre Hülle wiegt 500 Kilo, das Netzwerk und die übrigen Teile, Ventil, Korb und Anker, wieder so viel, wir haben noch 15 Säcke Ballast zu 25 Kilo und wiegen selbst, alle drei zusammen, über 200 Kilo.

So schwebt sie im Morgenstrom des Lichtes.

Wir nähern uns den viertausend Metern, wir nähern uns der Höhe der „Jungfrau“.

Schon in dieser Höhe überfällt die Pilger der Luft ein Heimweh nach der Erde, ein Gefühl grenzenloser Verlassenheit. Nichts spürt man als die Weite des Raums; das Aussichtsbild aber fesselt das Auge kaum mehr, denn mit ausgelöschten Farben, wie ein weites Feld, über das der Brand gegangen ist, liegt die Welt unter uns, die kaum mehr erkennbaren Dörfer, die Hügel, alles ist in den Boden gedrückt, kein Wald errauscht, kein Ton erklingt und in der gräßlichen Stille schleicht der Gedanke in die Brust: So wird die Erde in jenen fernen Jahrhunderttausenden sein, wo das Leben auf ihr erstorben ist, wo die Menschheit mit ihrer Ehre und ihrer Schmach in vergessenen Gräbern ruht, das brennende Auge der Sonne umsonst über die schwarzen Gegenden blickt und in der Wüste kein Lächeln und keine Thräne mehr findet.

Eine Ballonfahrt in beträchtliche Höhen bestätigt eine Erfahrung aus den Alpen. Auf dem Rigi lacht das Bild der Landschaft freundlicher als auf der Spitze der Jungfrau, und wer nur um des poetischen Genusses willen in eine Ballongondel steigt, der kommt, soweit es sich um das Ausgenießen der Landschaft handelt, in mäßigen Höhen leichter auf seine Rechnung als in den Hochlüften des Adlers und Condors.

Es ist empfindlich kalt, das Thermometer zeigt nur noch wenige Celsiusgrade über Null, unser junger Begleiter ist totenblaß, und ich selbst spüre, was ich bei anderen Fahrten in noch bedeutendern Höhen nicht erfahren habe – einen beklemmenden Mangel an Luft. Die Strapazen der Nacht mögen daran schuld sein.

Wir beraten ernstlich über den Abstieg, obwohl die für Wasserstoffgas gefirnißte „Wega“, durch deren Hülle das Leuchtgas kaum entweicht, mit dem Ballast, der uns übrig geblieben ist, Tragkraft genug besäße, uns noch den ganzen Tag über das Land hinzuführen.

Zur Vorbereitung des Abstieges wollen wir den faustdicken Guiderope, das Schleppseil, der jetzt nur 30 Meter unter den Korb reicht, in seiner ganzen Länge von 80 Metern aus der Gondel in die freie Luft hinunter entrollen, damit er, wenn wir in die Nähe der Erde gelangen, den Lauf des Ballons verlangsame.

Da stoßen wir aber auf ein hartes Stück Arbeit.

Die Nebenseile des Guiderope und die Haken des eisernen Ankers haben sich unterhalb des Korbes verwickelt und müssen auseinander gelöst werden. „Halte du den Anker, so weit du kannst, ich klettere aus dem Korb!“ Der Kapitän schwingt sich aus der Gondel und hängt mit seiner Linken an einem Henkel,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 798. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0798.jpg&oldid=- (Version vom 31.5.2023)