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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

bäumendes Pferd in die Höhe. Schon ist das in 24 Seile zusammenlaufende Netzwerk im Holzring am untersten Ende des Ballons zusammengezogen, die Gondel, ein großer aus Meerrohr und Weiden geflochtener Korb, mit 12 starken Stricken daran gehängt, und „Eintreten der Passagiere!“ befiehlt der Kapitän. Eine gewaltige Spannung hat sich der Zuschauerschaft bemächtigt, eine kleine Schar drängt sich um den Korb – ein letzter prüfender Blick des Kapitäns auf Gondel und Ballon und nun „Los!“

Fanfaren der Regimentskapelle – überall Bewegung, Hüte- und Tücherschwenken, tausendstimmige Rufe der Zuschauerschaft: „Glückliche Reise!“ In erhabener Ruhe steigt die hellgoldene Kugel zum sanft geröteten Abendhimmel, auf dem Rand des Korbes steht der Kapitän im Netzwerk und schwenkt die Mütze zum Lebewohl.

Es ist seine fünfhundertunddritte Fahrt – möge sie glücklich sein wie die vorangegangenen!

Man mag so oft, wie man will, in die Gondel eines Ballons steigen, stets werden die letzten Minuten vor der Abfahrt, wenn sich das Fahrzeug wie ein gefesseltes, nach Befreiung lechzendes Raubtier hin und her reißt, das Gemüt beklemmen, wird etwas von der aufgeregten Stimmung der Zuschauerschaft auf den Passagier übergehen, immer wird aber auch der Augenblick, wo die Erde von uns zurück in die Tiefe gleitet, den Passagier mit einem jäh aufströmenden Sicherheits- und Glücksgefühl überraschen, welches so stark befreit und beruhigt, daß selbst den Aengstlichsten plötzlich eine große Unternehmungslust ergreift.

Unsichtbare Hände heben uns sanft und liebevoll. Die Musik verrauscht, die Abschiedsstimmen der Tiefe verhallen – wie eine Blume, die sich mit plötzlichem Schlage öffnet, geht die Welt unter uns auseinander, wird die Enge zur Weite, und was uns vorher groß geschienen hat, Kurhaus, Garten und Teich, selbst die schöne Stadt Wiesbaden, das alles liegt einige Augenblicke nach der Abfahrt klein wie aus einer Nürnberger Spielzeugschachtel genommen unter uns. Am kleinsten sind die Menschen, sie sind nicht einmal mehr so groß wie Bleisoldaten, sie sind Ameisen, schwarze wuselnde Punkte, die auf den hellen Fäden der Straßen komisch dahingleiten, und von allem Lärm, mit dem sie die Erde erfüllen, dringt nichts mehr in die grenzenlose Stille, die uns umgiebt, als der halbverwehte Pfiff einer Lokomotive oder eines Rheindampfbootes.

Mit den Blicken gehen die Gedanken in die Ferne, beschaulich genießen wir die tief unter uns ausgebreiteten Bilder; in unfreiwilliger Andacht empfinden wir die Größe der Welt, die Weite des Raums; ja die Eindrücke der ersten Stunde im Ballon wirken so auflösend auf die Sinne, daß wir sie nur mit dem stärksten Aufgebot des Willens auf die Beobachtung von Einzelheiten zu sammeln vermögen.

In etwas größerer Höhe als die Spitzen des nahen tannendunklen Taunus gelangt die „Wega“ in die Gleichgewichtslage – sie steht ruhig, wie eine goldene Riesenampel, im Abendfrieden, und in den letzten Strahlen der Sonne glüht ihre Hülle, die unsern Blicken offen steht, in feierlichen Orangetönen und scheint wie ein Dom erfüllt mit goldenem Rauch.

An dieser leichten, halb durchsichtigen Hülle hängen drei Menschenleben. – – –

Wenn die Stricke rissen!

Ich habe einmal einen Professor sehr schön über den Tod derer reden hören, die aus einem Ballon stürzen. Sie sterben lange ehe sie den Boden erreichen, der sie zerschmettert. Während des Falles saugt ihnen die aufsteigende Luft den Atem aus der Brust, sie ersticken unterwegs. Der Erstickungstod aber werde von lieblichen Hallucinationen vorbereitet und das Leben ende schmerzlos mit einem schönen Traum!

Das ist tröstlich, tröstlicher ist die Gewißheit, daß es ein tüchtiger Kapitän ist, mit dem wir im Blauen kreisen.

Es sind bald zehn Jahre her, daß ich mit Kapitän Eduard Spelterini zum erstenmal in die Gondel eines Luftschiffes gestiegen bin. Und dann habe ich erlebt, was jeder erfährt, der eine glückliche Ballonfahrt hinter sich hat: er wird das Heimweh nach den hohen Lüften nie wieder los. Jahr um Jahr, oft ein paarmal im gleichen Sommer bin ich mit meinem Kapitän gefahren, meistens über die Berge, Abgründe und Seen der Schweiz. Wir sind nie an einem Gipfel hängen geblieben, wir haben nie einen Zusammenstoß mit einem andern Ballon erlebt, und wenn wir auch einmal eine morsche Esse eingerissen haben, so hat mich mein Freund doch immer wieder mit der Sorgfalt und Sanftheit, die man einer köstlichen Porzellanfigur widmet, auf die Erde zurückgestellt.

Man ist in seiner Gondel so sicher wie im Eisenbahnwagen.

Mein Mitpassagier, ein junger Herr aus Wiesbaden, ist davon nicht so überzeugt wie ich.

„Landen wir wohl bald?“ forscht er ein bißchen ängstlich.

„Wohin denken Sie, wir haben im Sinn, die Nacht durchzufahren!“

Da kommt eine sehr thörichte Geschichte an den Tag. Der junge Mann, der sich im letzten Augenblick vor der Abfahrt zur Mitreise gemeldet hat, ist, wie sich herausstellt, nur infolge einer leichtsinnigen Wette in die Gondel gestiegen.

Nun rinnt ihm der Schweiß der Reue über die Stirn. Schmerzlich ungläubig lächelt er zu unserm Plan.

Aber mitgegangen, mitgehangen!

Eine Nacht im Ballon! – Warum nicht? – Wer je schon bei klarem Himmel und im Schweigen des Sternenscheins auf hohem Berg gestanden, kennt die unergründlichen Reize eines Nachtgemäldes, die poesiereicher sind als der hellste Tag. Wenn die Natur die Farben auslöscht, werden erst ihre zartesten Stimmen vernehmlich, und die Aussicht, so wunderbar sie z. B. über einem Gebirgsland sein mag, ist noch lange nicht das feinste Element einer Ballonfahrt. Das ruhevolle Segeln durch den ungemessenen Raum, die Stille, die tiefer ist als das Schweigen eines Kirchhofes, der Ahnungsreichtum der Himmelsnähe, das Horchen auf die Laute der eigenen Brust, Mannigfaltiges, was halb äußere Natur, halb inneres Erleben ist, geben diesen friedlichen Stunden einen Inhalt, an dem die Erinnerung länger als am Wechsel der Landschaftsbilder zehrt.

Freilich, um sie nachher in Worte zu prägen, sind diese Erlebnisse zu individuell und zu fein.

Der linde Maienabend, in dem kaum ein leises Lüftchen die „Wega“ bewegt, verspricht eine wundervolle Nacht.

Ueber dem Hunsrück jenseit des Rheins steht das Sonnenrot wie eine flammende Wand, und darin rollt und sprüht das Riesenrad des untergehenden Gestirns. Im reinen Himmel, oberhalb der Abendröte, wandelt das blasse Horn des zunehmenden Mondes, der als treuer Knappe der Sonne in die Tiefen des Westens folgen will. Entzückende Lichtspiele gehen in der Halbdämmerung über die Lande. Die Schlange des Mains, die sich dem Rhein zuwindet, schillert in silbernen Schuppen, aus dem Grund des größern Stroms ist das Gold der Nibelungen an die Oberfläche der Wellen gesüegen und funkelt, der ferne Flußlauf der Nahe hat sich mit Rosen bedeckt, nah’ und fern liegt wunderzarter rötlicher Duft über den Landen und verklärt das in weicher Anmut träumende Bild.

Unendlich stimmungsvoll ist das Dahinschweben über den großen und kleinen Städten der Rheinlandschaft.

Wiesbaden, Kastel, Mainz, Höchst, Frankfurt, Darmstadt, selbst das ferne Worms leuchten noch, als ströme zurückgebliebenes Tageslicht aus ihnen, und Hunderte kleinerer Ortschaften blinken wie Häufchen weißer Kiesel im verblauenden Grund.

Jetzt sind nur noch die höchsten Taunusspitzen hell. Feierabend und Friede weit und breit. Ist es Täuschung, ist es Wirklichkeit, hören wir ferne Abendglocken? – Da flammen in Mainz die ersten Lichter auf – einige Augenblicke später, und im Rhein scheinen die Lichtguirlanden der Uferstraßen und Brücken wieder, die Fabriken von Höchst und der große Bahnhof von Frankfurt heben ihre hellen Leuchten in die weite Nacht, und in Wiesbaden brennt man eben das große Feuerwerk zu Ehren des Kaiserbesuches ab. Wie tief bleiben die steigenden Sterne und Farbengarben unter der Gondel, und ihr Spiel, das von der Stadt aus gewiß ein hinreißendes Schauspiel bietet, ist für uns im Bild der lichterflammenden Städte, die wie blitzende Kronen auf dunklem Kissen ruhen, nur eine bescheidene Episode.

Weit über die elektrisch erleuchteten Orte der Nähe hinaus glänzt

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 795. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0795.jpg&oldid=- (Version vom 31.5.2023)