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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)


„Sie war zuerst ganz still,“ erzählte der Fuhrmann, „als sie aber aus der Ebene die Berge sah, kam es wie eine Art Tollheit über sie und ihr Vorwärtstrieb war kaum mehr zu bändigen.“

In acht Tagen, mit vielen Unterbrechungen, die das Aus- und Einladen der Waren erforderte, war er mit ihr von Mailand nach Tirano gelangt.

Zuletzt sprach sie nur noch von ihrem Kinde in Pontresina, sprach wirres Zeug, als ob sie nicht ganz gut im Kopf wäre, und machte sich trotz aller Abmahnungen auf den schwer verschneiten Weg. – –

Am Morgen betrachtete Cilgia noch einmal die blasse Tote.

Die wilde Pia, die heimtückische Pia – eine seltsame, in ihren dunklen Gängen nicht leicht verständliche Seele war zur Ruhe gekommen.

Nun war Cilgia doch, es liege ein Glanz auf der niedrigen Stirne des Weibes. Die unwandelbare Schwestertreue – das erwachte Heimweh nach dem Kinde!

Sie legte frische Rosen und Nelken, die sie von den Stöcken zwischen den Fenstern schnitt, auf die Brust der Leiche.

O wie hatte sie diese geringe Pia gehaßt! Aber das Sterben im Schnee löschte die Bitterkeit hinweg.

Schrecklicher war ihr der Gedanke, daß nun Markus Paltram kommen würde, die Verunglückte abzuholen – daß sie ihm gegenübertreten – daß sie ihm ihre Teilnahme bezeigen müßte. Sollte sie ihn fragen: „Wißt Ihr, wo mein Mann Gruber geblieben ist?“

Um Lorenzleins willen verwarf sie in herbem Kampfe den Plan. Wie wenn Markus Paltram bekennen würde: „Ich habe ihn erschossen!“ – dann müßte sie die Leiche suchen und beerdigen lassen, dann sah das Volk klar in den schmachvollen Untergang des reichen Saumhalters.

Das durfte wegen ihres Buben nicht sein! – –

Die Stunde kam, wo Markus Paltram seinem toten Weib die Hand reichte, würdig, feierlich. – Da trat auch Cilgia im Trauerkleid herzu – von eigenem Leid umhüllt wie eine, der niemand nahen darf – in unzugänglicher Vornehmheit, fremd und kühl, mit wenigen, fast trockenen Worten des Mitgefühls grüßte sie ihn.

Als er aber die Rosen und Nelken auf der Brust der Leiche sah, fragte er Cilgia: „Habt Ihr sie daher gelegt?“

Sie nickte nur mit dem stolzen, blassen Haupt.

Da sank der gewaltige Mann neben die Bahre und schluchzte.

War es doch etwas Liebe zu seinem toten Weib? – schluchzte der selsenstarke Jäger unter der Gewalt der Geschicke?

Cilgia und der Säumer Tuons, der Markus Paltram auf dem schweren Gang begleitet hatte, zogen sich zurück.

Markus Paltram war mit seinem toten Weibe allein.

Cilgia hatte seine Erscheinung doch in allen Tiefen ihrer Seele ergriffen. Sie spürte es wohl, sie stand einem Ebenbürtigen gegenüber.

Aus ihrem Sinnen erweckte sie ein Klopfen an der Thür.

Markus Paltram trat nochmals ins Zimmer – gemessen – feierlich. „Das Nötige ist geschehen – wir können uns auf den Weg begeben. Ich komme, Euch für den großen Liebesdienst zu danken und Abschied zu sagen.“

„Erquickt Euch auf den weiten Weg!“ versetzte Cilgia in voller äußerer Ruhe. „Da stehen Wein, Brot und Fleisch.“

Und eine Weile schien es, als ob sie nur von den Dingen sprechen wollten, die der Traueranlaß bot. Sie redeten wie zwei Fremde – dann wurden sie still.

Da fiel der Blick Markus Paltrams auf das Bild Paolo Vergerios und Katharina Diantis, er blieb in dunkler Träumerei daran hängen. Dann glitten seine Augen hinüber zu Cilgia, die sich um ihre Blumen mühte.

Es war ein langer, dürstender Blick, unter dem sie erbebte.

Sie war in ihrem dunklen Kleid nicht mehr die wundersame, jugendduftige, strahlende Gestalt von Pontresina. Aber sie war mehr! Sie besaß den Adel eines Weibes, das gekämpft hatte, und etwas Klares, Schönes, in sich Einiges stand in dem Gesicht und dem braunen Goldglanz der großen Augen; um die frischen roten Lippen spielte ein ungemein feiner und lieblicher Zug, als wären sie immer noch bereit, froh ins Leben zu lachen. Und das kastanienbraune Haar schmiegte sich weich und schön um das beredte Gesicht.

Was ging in Markus Paltram vor?

„Cilgia Premont!“ löste es sich von seinen Lippen, als bräche etwas in seinem Innersten. „Ihr habt wohl wie kein Mensch auf der Welt das Recht, mich zu verdammen, und wegen der Sünde an Euch muß ich schweifen wie der ewige Jude. Aber Ihr seid besser als Katharina Dianti – gebt mir ein gutes Wort auf den Weg – ein einziges gutes Wort!“

Wie nach ferner verlorener Heimat suchend, sah er sie mit flehenden Augen an und seine Stimme klang voll Demut.

Flehend und demütig – der König der Bernina – herzbezwingend demütig.

In heißer Bewegung stand er auf, sie aber kämpfte in Verlegenheit und Purpurglut.

Eine lange, bange Stille. – Da flüsterte sie mit abgewandtem Haupt: „Markus Paltram – ich habe Euch vergeben! Doch jetzt geht!“

Er aber taumelte, als wollte er im Dank vor ihr niederknieen. „Cilgia Premont!“ stammelte er, und das Wasser stand in seinen Augen.

Da riß sie die Bewegung des Mannes wider Willen fort. Glutrot und verwirrt, mit bebender Stimme sprach sie:

„Ich sage Euch mehr als ich darf. Wenn Ihr Euern Namen mit dem Ruhm einer einzigen guten That umgebt, so wird sich kein Mensch mehr freuen als ich. Jetzt geht! Lebt wohl, Markus Paltram!“

Sie sah ihn an – und unendliche Trauer zuckte durch die Worte: Jetzt geht! Lebt wohl, Markus Paltram!

In den schönen, warmen Augen Cilgias sah er, daß sie ihm wirklich und wahrhaftig verziehen hatte – verziehen wie Katharina Dianti ihrem Peiniger Paolo Vergerio.

„Ihr werdet von mir hören,“ erwiderte er in herzlicher Bewegung. (Fortsetzung folgt.)


George Washington.

Ein Gedenkblatt zur 100. Wiederkehr seines Todestages.
Von Rudolf Cronau.

Es war am 14. Dezember 1799, als die Bewohner der erst seit anderthalb Jahrzehnten bestehenden Republik der Vereinigten Staaten von Nordamerika ganz unerwartet in eine Trauer versetzt wurden, deren Tiefe und Allgemeinheit sich mit derjenigen vergleichen läßt, die Alldeutschland im vergangenen Jahre beim Hingang seines Einigers Bismarck erfaßte. George Washington, der Held des amerikanischen Freiheitskrieges, der Gründer des heute so mächtigen Staatenbundes, war nach nur eintägiger Krankheit zu Mount Vernon in Virginien aus dem Leben geschieden! – Die Kunde von diesem Ereignis pflanzte sich in jenen Tagen mangelhafter Nachrichtenverbreitung nur langsam fort, und Washington war bereits beigesetzt, bevor die Bewohner New Yorks die düstere Botschaft empfingen.

Mit ihr senkte sich tiefe Bekümmernis über das ganze Land. Keine Kirche, kein Versammlungshaus gab es, wo nicht ein Katafalk zu Ehren des Toten aufgeschlagen wurde, wo nicht dumpfe Trauergesänge ertönten und dem Andenken des Dahingeschiedenen ergreifende Nachrufe gewidmet wurden. Und wohin die Kunde weiter drang, in jedem Teile Mittel- und Südamerikas, in jedem Reiche Europas wurde der Hingang Washingtons von allen Edelgesinnten als ein schwerer Schlag empfunden, der nicht das Volk der Vereinigten Staaten allein, nein, der die ganze Menschheit getroffen hatte. –

Genau 100 Jahre sind seit jenem Trauertage verflossen, und es ziemt sich darum wohl, nochmals jene Thaten und Tugenden zu skizzieren, durch welche George Washington unter

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 780. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0780.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2023)