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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

„Ich verdiene diese Antwort nicht – seid sicher, ich weiß Menja zu schützen. – Melcher, Euere Pläne für das Bad St. Moritz – ich nehme sie auf – ich verteidige sie – ich führe sie durch! Hier habt Ihr mein Ehrenwort – es ist, weiß Gott, Zeit, daß wir handeln. Wir bauen im nächsten Sommer das Bad!“

Mit einer warmen Bitte in den Augen streckte er ihm wieder die Rechte hin.

Es wand sich etwas in Melcher, als er den Sohn seines Gegners in männlicher Kraft als einen Bittenden und Versprechenden vor sich stehen sah.

„Denkt an Menja,“ bat Cilgia.

Da schlug Melcher in die dargebotene Hand ein.

„Gut,“ sagte er, „hat mein Kind so lange auf Euch gewartet – so nehmt es! Ich hoffe nur, daß Euer Vater so rechtlich ist wie ich. Sonst – – –“

Das klang schwer und sorgenvoll.

Doch der Pfarrer fiel ein: „Ein Brautpaar! Das bedeutet Freude für das Engadin. Man hat es so lange nicht erlebt!“

Und er hob sein Glas.

Es war ein glücklicher Tag im Hause Cilgias. Aber er verdeckte die Sorge nicht ganz.

„Vom Maloja bis Zernetz kann man gehen, man findet keinen neuen Ziegel auf einem Dach,“ klagte der Pfarrer. „Die Häuser der Ausgewanderten, die niemand pflegt, stürzen ein und jedes Dorf hat seine Ruinen, die wie Untergang thalauf, thalab schauen. Es ist zum Thränenvergießen, wie wertlos alles geworden ist!“

Ihm aber antwortete der in Liebe und Heimatglück aufwallende Herr Konradin:

„Auf das Wohl unseres Freundes Luzius von Planta, der uns im Ratsaal zu Chur den Bau der Alpenstraßen erobert hat! Es lebe die Zeit, wo man mit Wagen und Post über die hohen Berge fährt! Ich sehe sie an den grünen Hängen niedersteigen – sie bringen Gäste zum Sauerquell von St. Moritz!“

Mit der Bedächtigkeit des lebenserfahrenen Mannes dämpfte Melcher seine Begeisterung: „Wir sind ein halbes Jahrhundert zu spät – der Weltverkehr geht nie wieder über die Bündnerpässe. Schaut Euch vor, daß nicht die Spötter recht behalten – daß das Bad St. Moritz gebaut wird und dann – keine Gäste kommen!“

Als sie am Abend die drei Männer zu Pferde gegen die Bernina traben sah, dachte Cilgia an einen, der einst auch wie Herr Konradin in heißlodernder Begeisterung es vor ihr und dem Himmel versprochen hatte, daß er die erlöschende Ampel des Engadins füllen werde.

Sie dachte an Markus Paltram – und erschauerte bei dem Namen.

Dennoch war ihr, als könnte nach den großen Stürmen auch ihr wieder die Sonne lächeln.

Sie betrachtete ihren prächtigen Buben. Es fiel ihr ein, daß bald die Zeit komme, wo Lorenzlein Lesen und Schreiben lernen sollte.

Und sie dachte an die Schulpläne ihres Vaters. Einige Tage später ging sie zum Podesta, sie sprach: „Es war immer der Stolz von Puschlav, daß wir ein aufgeklärtes Völkchen sind; um es aber zu bleiben, sollten wir einen Lehrer, einen tüchtigen Pestalozzianer haben. Ich thue das meine.“ – „Was wollt Ihr thun?“ fragte der Podesta. – „Ich richte der Gemeinde unentgeltlich ein Schulzimmer in meinem Hause ein. Ich will es nicht so tot bleiben lassen, wie es jetzt ist.“

Der Plan gefiel in Puschlav. „Ihr Mann, der verschollene Gruber,“ sagten die Leute, „hat immer ein saures Gesicht gemacht, wenn er mit seinem großen Umtrieb zu den öffentlichen Lasten hat beisteuern müssen – sie aber ist wie ihr Vater, der zu früh gestorbene Podesta – sie hat die Ader für das öffentliche Wohl!“

Gegen den Herbst kam noch einmal Pfarrer Taß geritten.

„Es geschehen noch Zeichen und Wunder,“ erzählte er fröhlich. „Der Aristokrat, ich meine den Landammann, hat sich mit dem Volkstribunen halb und halb versöhnt. Aber gekracht hat es in St. Moritz, als müßte das ganze Dörfchen auseinander gehen. Herr Konradin saß mit Menja schon zu Pferd, um in die weite Welt zu reiten. ‚Was soll nun dieses junge, schöne Paar wegen der Hartköpfe fort?‘ so murrte das Volk, ,wir sehen doch auch lieber etwas Junges als nur unsere alten, streitbaren Herren!‘ – Ich kam dazu – und siehe da, der Landammann brach seinen Starrsinn – er ging zu Melcher – und jetzt ist großer Waffenstillstand – sie haben beide mit mir eine Flasche getrunken. Aber das Bad – das Bad – das kommt nicht – das ganze Dorf ist dagegen!“

„Es kommt,“ sagte Cilgia fest, „nur ist der Feldzugsplan ein Geheimnis!“

Allmählich wurde es Herbst.

Es war an einem trüben Oktobertag, der Schnee fiel dicht und schwer, es herrschte Wetter wie damals, als Sigismund verschwand, und der Sturm geigte an den Ecken des Hauses.

„Mutter,“ bettelte der kleine Lorenz, der mit ihr in die Flockenjagd hinaussah, „erzähle mir eine Geschichte – erzähle mir vom König der Bernina! Ist es wahr, daß er auf einen Berg steigen will, den niemand ersteigen kann?“

„Bist ein thörichter Bub,“ sagte sie heftig und wandte den Kopf gegen das Fenster, damit er sie nicht sehen könne. Der Name traf sie wie ein stechender Schmerz.

Da sah sie auf der Straße eine weibliche Gestalt, die, in ein großes dunkles Tuch eingeschlagen, fast wie eine Nonne aussah und sich durch den mit den Winden wogenden Schnee kämpfte. Das Weib schritt den Flecken aufwärts und entschwand rasch im dichten Wirbel der Flocken.

Wäre Cilgia nicht so stark von ihren Gedanken befangen gewesen, so hätte sie die wie ein Schatten vorüberhuschende Gestalt erkennen müssen.

Der Sturm nahm zu – ein wilder, schrecklicher Spätabend folgte dem Tag.

Sie wachte noch. Da ging durch den Flecken der Ruf: „Ein Unglück!“ – Er kam von veltlinischen Säumern, die sich durch den Schnee der Bernina gekämpft hatten und erst gegen Mitternacht, selbst zum Sterben erschöpft, Puschlav erreichten.

Cilgia war eine der ersten bei den lärmenden vermummten Männern, bei den Pferden, die voll Eiszotteln hingen, und die Laterne des alten Thomas leuchtete in die Schneenacht. Auf einem der Pferde saß halb, lag halb mit einem schwarzen Tuch umhüllt ein Weib – die Gestalt, die Cilgia wie einen Schatten durch den Schnee hatte gehen sehen, und zwei Männer hielten sie.

„Eine Wegstunde oberhalb des Fleckens haben wir sie gefunden,“ erzählten die Säumer, „es ist ein Roß an ihrem Leib gestrauchelt. Da haben wir sie aufgehoben – sie lebte noch und atmete, aber wir konnten uns nicht weiter um sie kümmern, denn wir hatten genug mit uns und unsern Rossen zu thun.“

„Bringt sie in mein Haus,“ sagte Cilgia erbarmungsvoll.

Als man aber im Zimmer die Tücher zurückschlug, in die die Verunglückte eingehüllt war, sank Cilgia vor Schreck fast zu Boden, und jede Farbe wich aus ihren Zügen.

„Gott, das ist Pia! Das ist das Weib Markus Paltrams!“

Die Leute aber, die sie begleitet hatten, um die Wiederbelebungsversuche anzustellen, erklärten bald: „Da ist jede Mühe umsonst – sie ist tot! Sollen wir sie in die Gemeindescheune bringen, oder wollt Ihr sie hier behalten?“

Tieferschüttert antwortete Cilgia: „Laßt sie hier!“ Ein Weib aus dem Flecken schloß die gläsernen Augen der Toten und wachte bei ihr.

Am folgenden Tag hatte der Sturm nachgelassen und das Wetter war so leidlich, daß man es wagen durfte, einen Boten mit der Unglücksmeldung nach Pontresina zu schicken.

Im Lauf dieses Tages wurde auch einiges aus den Schicksalen der wandernden Pia bekannt, denn der Fuhrmann, auf dessen Warenwagen sie von Mailand an mitgefahren, hielt sich noch in Tirano auf. Wie sie ihm erzählt, hatte sie ihren Bruder in Hamburg erreicht; nach einiger Zeit aber hatte sie das Heimweh nach Mann und Kind und den Bergen überfallen, Orlando hatte sie dann auf einen Segler gegeben, sie war von Schiff auf Schiff gekommen, immer hatte sie gute Menschen getroffen, die einen in mehreren Sprachen abgefaßten Geleitbrief ihres Bruders lasen und weiter für sie sorgten, bis sie in Genua landete.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 779. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0779.jpg&oldid=- (Version vom 7.2.2023)