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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

erwarten würde. Was sie aber von seinen Lippen hört, das schleicht wie Grauen in ihre schwache, abergläubische Seele.

„Mutter,“ keucht der Fiebernde, „die Schmerzen stillen, ist nichts – aber töten, Mutter – töten in der großen Gletschereinsamkeit – doch hat er zuerst und hinterhältig geschossen!“

„Wer hat auf dich geschossen?“ flüstert ihm Pia zu.

Aber die Gedanken des Fiebernden gehen einen anderen Weg.

„Ja, ja, ich spüre es, wer getötet hat, ist ein starker Mann – stark bin ich wie der Ritter von Guardaval, stark wie ein Berg – ich hole für sie die Flamme vom Piz Bernina!“

„Für wen?“ flüstert ihm Pia mit lauernden Augen zu.

Es ist, als merke der Kranke, daß ihn sein Weib ausfragen will; er fährt mit der Hand über das Gesicht, als ob er etwas wegwischen wolle, seine Rede stockt – dann beginnt er wieder: „Das Geschlecht Paltram muß untergehen – im Gletscher untergehen – was thut’s? – ein treuloser Camogasker! – Nein, ein Camogasker ist stark genug – ich erlöse das Engadin – die Berge flüstern es mir nicht zu, aber auf der Spitze der Bernina hört man es von der Sonne! – Man kann nicht hinaufsteigen – aber im Wagen kann man fahren – es sinken die Gipfel – – Horch, horch! – Nein, Sonne, du erzählst nicht gut! – Einen Tag, einen ganzen Tag haben Aratsch und seine Geliebte zu wandern – dann erst stürzt die Bernina ein. – Doch sage, warum friert der schöne Jägerknabe und die Pia liegt, auch im Schnee – und die vielen Flocken fallen – ich aber verbrenne vor Durst.“

Und der Fiebernde fährt erwachend auf: „Pia, Wasser – Wasser!“

Er schlürft den Trank gierig.

Pia aber, wie sie diesen Fieberreden lauscht, schleicht das Grauen in Knochen und Gebein.

Und wieder fabelt er in langen Selbstgesprächen.

Da reicht sie ihm die kleine Jolande ins Bett – und siehe da, das Kind schlummert ein an der Brust des Vaters, und bei den regelmäßigen Atemzügen des süßen Mündchens findet er selber das Glück eines friedlichen Schlafs.

Es ist, als würde die Kleine mit ihrem Geplauder sein Arzt. – – –

In diesen Tagen – der erste Schnee ist eben im Thal gefallen – erschreckt eine merkwürdige Kunde das Bergland.

Sigismund Gruber, der reiche Saumhalter, ist geheimnisvoll am letzten schönen Herbsttag verschwunden – auf offener Straße, am hellen Tage verschwunden.

Er begleitete in erster Morgenfrühe einen Saum aus den Thoren von Bormio, ein Stück gegen das Stilfserjoch. Plötzlich trennte sich der etwas verdüsterte Mann ohne ein Wort des Abschieds von seinen Säumern, stellte zu Bormio das Pferd ein und ward nicht wieder gesehen.

Erst am dritten Tage vermißte man ihn eigentlich – es lag in der Art seines Geschäftes, daß er oft ein, zwei Tage ausblieb – und bis man Nachforschungen begann, war Schnee gefallen, der sie erschwerte.

Acht Tage blieb man im Unsichern – von da und dort kamen Gerüchte, man habe ihn erst noch kürzlich getroffen, sie machten sein Verschwinden nur geheimnisvoller.

Tage kamen, Tage gingen und Vermutungen bildeten sich. – Er hat sich aus dem Staube gemacht, weil ihn das Gewissen wegen Pejder Golzi quälte. – Aber glaubwürdig war das nicht! Gruber war kein Abenteurer, und ein so blühendes Geschäft, eine so herrliche Frau, einen so prächtigen Buben läßt man nicht leichten Herzens im Stich. – Zuletzt bildete sich die bestimmte Annahme, er sei einer Rachethat des fahrenden Volkes zum Opfer gefallen, und es liefen Sagen genug, mit was für furchtbaren Eiden die fahrenden Leute aller Länder verbunden seien, wenn es sich darum handle, eine Missethat, die an einem der Ihrigen begangen worden sei, zu vergelten.

Selbst die Behörden suchten hier die Spur.

Das Ereignis erschütterte – aber die Nachreden auf Sigismund Gruber waren kühl – nur das Mitleid mit seiner Frau und seinem Knäblein groß – die Familie hatte ja, so bezeugten alle, die sie kannten, in innigstem Glück gelebt.

In dieser schweren Zeit war Pfarrer Taß häufig zu Puschlav.

„Wie erträgt Frau Cilgia den Schlag?“ fragten die Freunde.

„Stolz wie immer – sie führt das Geschäft weiter, damit die Knechte nicht auf den Winter brotlos werden – sie ist blaß, sehr blaß – aber gefaßt.“

„Hat sie keinen bestimmten Verdacht?“

„Keinen!“

„Und die Knechte?“

„Sie trauen es dem langen Hitz zu. Doch dagegen spricht Cilgia mit aller Festigkeit und die war seine Freundin nie.“

Und das Rätsel blieb – die Untersuchungen gingen ihren Weg. – – –

Langsam erholt sich Markus Paltram, und wie er sein Weib fieberfrei anblickt, da fragt er verwundert: „Was ist das?“

Er meint das bunte Tuch, das sie um die Schultern geschlungen hat.

„Es ist ein Geschenk von meinem Bruder Orland, es ist das Zeichen, daß ich zu ihm gehen muß!“

Pia sagt es so überzeugungsvoll, daß Markus Paltram sie erstaunt ansieht.

„Warst du krank?“ sagt er, „hattest du das Fieber, nicht ich? Sei kein Narr, Pia!“

„Aber ich habe es ja immer gesagt, daß ich einmal zu meinem Bruder gehe,“ versetzt sie ruhig, fast demütig.

„Und unsere kleine Jolande?“ fragt er mit finsterm Hohn.

„Ja, unsere kleine Jolande!“ erwidert sie gedankenvoll. „Aber ich muß doch zu meinem Bruder gehen.“

Und der Trotz schürzt ihre Lippen.

„Pia, du bleibst da!“

Markus Paltram sieht sein Weib mit einem seiner gewaltigen zwingenden Blicke an. Sie krümmt sich unter diesem Blick, zieht aber ihr Tuch enger zusammen, als finde sie darin Schutz und Kraft gegen ihn.

Nach einiger Zeit kann er wieder auf die Jagd gehen, und die immer noch hübsche Pia hausiert mit dem Fleisch der Gemsen in den Dörfern.

Neugierig fragten die Leute: „Warum kommt Ihr erst jetzt wieder?“

Da sagte sie wohl: „Der Husten hat halt Markus für eine Weile gelegt“, aber sie ließ dabei einen Blick ihrer schönen Raubtieraugen mitgleiten, der zu sagen schien: „Das glaubt ein Narr!“ Und manchmal fügte sie bei: „Ich gehe im Frühling zu meinem Bruder Orland!“

Da und dort erkundigte sie sich um den Weg nach Hamburg – und die Leute schüttelten hinter ihr die Köpfe. Ihren Plan nahm niemand ernst als sie selbst.

Wo die Straße einsam ist, prägt sie sich an Fingern zählend die Namen der Städte ein, die zwischen dem Engadin und Hamburg liegen, und jeder Finger ist eine Stadt, und wenn sie über zehn gezählt hat, beginnt sie von neuem.

„Die verrückte Pia!“ sprechen die Leute und lachen. Aber ein sonderbares Gerücht entsteht: sie fürchtet ihren Mann so gräßlich – sie wird wie ihre Großmutter – sie hat einen Sparren im Kopf!

Aus ihrem verschlagenen Wesen wurde niemand klug. Oft schien es, sie habe einen unbändigen Stolz auf Markus Paltram, oft blitzte etwas wie Rachsucht hervor – eine Empörung, weil er ihren Willen fesselte – und es ging keine tolle Nachrede über ihn, die sie nicht bestätigte.

„Es ist, wenn er am Abend in seiner Werkstatt die Kugeln gießt, ein anderer bei ihm. Sie zählen die Kugeln und je die siebenundsiebzigste legen sie auf die Seite. Die ist schwerer als die andern. Die muß einem Jäger in die Brust. So lange, als das dauert, hat er Glück in den Bergen.“

Sie versicherte es allen Ernstes.

Man ist im Engadin nicht abergläubisch. Man lachte zu den Aufschneidereien der Frau Pia. Man sagte: „Markus Paltram giebt es ihr selber so an.“ Je geheimnisvoller er andern erscheint, um so weniger wagen sie es, in der Bernina zu jagen – aber etwas davon bleibt, und als Pia lange genug solche Dinge erzählt hatte – glaubte sie selbst daran.

„Hat er denn schon einen getötet?“ fragen neugierige Weiber.

„Er sagt es mir nicht,“ versetzt sie unschuldig, „aber er

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 774. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0774.jpg&oldid=- (Version vom 3.2.2023)