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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Gerede des alten Fräuleins zuhörte oder doch zuzuhören versuchte – dem Gerede, das nichts in so vielen Worten aussprach – während er das scharfe, ungute Gesicht neben sich betrachtete, sagte sich mit einem gewissen, heimlichen Erschrecken, daß er Agneten begriff! Die neu Angekommene warf ihm von Zeit zu Zeit einen fragenden, schlauen, wohlgefälligen Seitenblick zu.

Er hatte ihr in den letzten Minuten gar nicht mehr zugehört, sondern seine Augen nach Agnete wandern lassen, auf deren schwermütigem Gesicht das Mondlicht in wechselnden Lichtern und Schatten sein anmutiges Spiel trieb. Es machte ihn ungeduldig, daß sie seinen Blick gar nicht fühlte und gar nicht erwiderte.

„Und wenn Agnete heiratet,“ sagte Bertha jetzt mit etwas erhobener Stimme und sichtlich gewolltem Nachdruck – Groden fuhr wie angerufen zusammen und sah zu der kleinen, vertrockneten Gestalt an seiner Seite nieder – „wenn Agnete einmal heiratet, so ziehe ich natürlich mit ihr! Sie wissen vielleicht nicht, Herr von Groden, daß wir beiden Stiefschwestern durch besondere Verhältnisse zusammengehören und zusammenbleiben müssen. Ich ziehe mit ihr – es müßte denn der Fall eintreten, daß der etwaige zukünftige Schwager so viel Geld und so viel Großmut besäße, um ein ganz armes Mädchen zu heiraten! Solche Leute giebt es ja hin und wieder noch, wie ich mir habe sagen lassen.“

Sie nickte ihrem sprachlos gewordenen Begleiter kaltblütig zu und ließ ihn stehen.

„Dem habe ich den Standpunkt klar gemacht!“ sagte sie befriedigt vor sich hin und schritt der Plattform zu, „ich habe nicht umsonst bei Tisch meine Augen offen gehabt.“

Als sie an Agnetens Platz vorbei kam, hielt diese sie durch eine Handbewegung zurück.

„Was hattest du denn so lange mit Herrn von Groden zu sprechen?“ frug sie gepreßt.

Bertha lachte trocken. „Du bist wohl eifersüchtig?“ sagte sie, „nein, ich will dir deinen Verehrer nicht wegkapern –“

„Von was habt ihr gesprochen?“ wiederholte Agnete dringend und heftig.

Bertha sah sie mit einer gewissen Belustigung an. „O, von allerlei,“ sagte sie, „du kamst auch ein paarmal in unserer Unterhaltung vor – laß es dir doch von ihm selber erzählen, wenn du es so gern wissen willst! Vielleicht sagt er es dir!“

„Vielleicht!“ erwiderte Agnete anscheinend sehr ruhig und wandte den Kopf wieder nach den Bergen hin.

Bertha ging ins Haus.

Groden war, nachdem Bertha ihn verlassen hatte, raschen Schrittes weiter in den Wald gegangen. Er hatte das blasse Gesicht Agnetens immer wieder mit einem Gefühl von Schmerz und Sorge, von leisem, nagendem Vorwurf und aufflammendem Entzücken angesehen – sich immer wieder gesagt, es lohne sich doch, sie aus ihrer traurigen Sklaverei zu befreien! Er war selbst so weit gegangen, sich zu fragen, ob er sich nicht am Ende überwinden würde und die Schwester mit in Kauf nehmen – er hatte sich zu diesem Zweck in die längere Unterhaltung mit dem alten Fräulein eingelassen. Aber eben diese Unterhaltung hatte entschieden.

„Ich kann es nicht – das nicht!“ sagte er in der Waldstille laut vor sich hin, „einen augenblicklichen Heroismus könnte ich mir abringen, ein Riesenopfer zustande bringen – aber hier handelt es sich um ein lebenslanges, fortgesetztes, unausgesetztes Opfern – hier handelt es sich um jede Stunde, um jede Minute, wo mir diese fatale Dritte das Leben zerstören würde – ich kann nicht! Ich müßte mir Ferien suchen, um mit meiner Frau allein zu sein – ich müßte mich vor jedem Heimkommen fürchten, wo ich die alten Verhältnisse wieder vorfände, ich würde diese unangenehme Art, zu sprechen, zu essen, zu sein, täglich und immer wieder täglich an meinem Tische haben müssen! Und ich würde zum schlechten Menschen, zum Schurken werden unter dieser Notwendigkeit! – Und ohne Vermögen – ohne Geld? Da teilen und halbieren, wo ich bis jetzt allein genossen habe, jeden Groschen umwenden und noch einmal umwenden, denken müssen: Reicht es auch ? Schlechte Cigarren rauchen und bei einem Schneider zweiten Ranges arbeiten lassen? Das klingt nach armseligen Details – aber das Leben besteht daraus – die Details muß man sich in jeder Lebensfrage klar machen, die großen Umrisse thun es nicht! – Es soll nicht sein!“ beschloß er seinen Gedankenkampf, „und es ist das Beste, ich mache rasch ein Ende! Denn wenn ich das süße Gesicht noch oft vor mir sehe, begehe ich doch noch eine Dummheit, und diese wäre die größeste, die ich jemals gemacht hätte! Aber heute abend will ich mich noch einmal belohnen – einen Abend noch, das kann ja niemand etwas schaden – und wir haben dann beide noch eine schöne Erinnerung!“

Und Groden hielt sich Wort! Nie war er liebenswürdiger, heiterer, sprühender von Witz gewesen, nie hatte er einschmeichelndere Töne in seiner Stimme gehabt, nie hatten seine Augen feuriger geblitzt als in diesem über sich selbst hinaus gesteigerten Gefühl: „nur dies eine Mal noch!“ Und nie hatten alle diese gefährlichen Huldigungen, dies süße Gift ausschließlicher oder so ausschließlich Agneten gegolten wie an diesem Abend. Er hob sie gleichsam auf einen Thronsessel und lag ihr mit der ganzen Anmut seines Wesens zu Füßen – sie trug ihre Königspracht mit einem glückseligen Stolze, mit dem wundervollen und dabei leise ängstigenden Gefühle, das wir in einem unbeschreiblich schönen Traume haben, in dem es uns neben allem Entzücken anfängt zu dämmern, daß es vielleicht doch – doch nur ein Traum ist! Aber eben, wie wir thörichten Menschenkinder es mehr oder weniger alle thun, wehrte sie sich mit ganzer Kraft gegen das Erwachen und träumte weiter.

Die alte Excellenz sah mit ihren blauen klugen Augen dem Treiben aus einer Diwanecke zu, in die sie, anscheinend ganz in ein Buch vertieft, sich zurückgelehnt hatte. Nur einmal, als Groden eben zufällig in ihre Nähe kam, legte sie die Hand einen Augenblick flüchtig auf seinen Arm. „Mein lieber Herr von Groden, schenken Sie mir ein paar Sekunden – ja?“

„Eine Ewigkeit, meine gnädigste Excellenz,“ sagte er mit seinem gewinnendsten Lächeln.

Sie sah ihn beinahe traurig an. „Darf ich Sie etwas fragen?“

Er blickte mit dem Ausdruck schelmischer Gutherzigkeit auf sie nieder, der seinem Gesicht bisweilen etwas überraschend Kindliches gab. „Wenn es nicht in jedem Fall beantwortet sein muß!“ sagte er lachend.

Die alte Dame lächelte auch, aber nur einen Augenblick; dann sah sie ihn ernsthaft an. „Wissen Sie ganz genau, was Sie thun?“ frug sie.

Er zuckte die Achseln. „Möglichst nicht!“ erwiderte er leichtfertig.

„Es giebt ein ernsthaftes Kapitel im Lebensbuch,“ sagte sie mit Nachdruck, „das Kapitel von der Verantwortung – ich empfehle Ihnen den nächsten Regentag, um das einmal nachzulesen!“

Er biß sich einen Augenblick auf die Lippen.

„Nun, heute haben wir ja das klarste Wetter und den schönsten Sternenhimmel,“ sagte er dann, „da kann ich mir ja wohl noch Zeit zu der Lektüre lassen.“

Und mit einer seiner Kavaliersverbeugungen ging er davon.

Die alte Dame sah ihm nach und schüttelte unmerklich den Kopf, als sein Lachen so bald wieder zu ihr herübertönte.

Aber ihre Worte waren doch nicht ganz ohne Eindruck geblieben. Er wurde stiller, und der Kreis, den er durch seine feurige Heiterkeit belebt hatte, wurde es mit ihm – man brach auf, um sich zur Ruhe zu begeben.

Als Groden sich schon von Agnete verabschiedet hatte – nicht anders wie an jedem vorhergegangenen Abend – und sie an der Thür stand, kam er noch einmal rasch hinter ihr her.

„Sie haben dies Buch hier vergessen“, sagte er in unbefangenem Ton und hielt es ihr hin.

Sie sah ihn überrascht an, die Klinke schon in der Hand.

„Das ist nicht mein Buch!“

Er lachte etwas verlegen.

„Ganz recht!“ sagte er, nur ihr verständlich, „Sie sollten bloß noch einmal stehen bleiben und mich ansehen – so!“

„Damit Sie mich bis morgen früh nicht vergessen haben?* frug sie scherzend, aber mit leise zitternder Stimme.

Er sah sie einen Augenblick fest – durchdringend – leidenschaftlich an. „Ganz recht!“ sagte er dann noch einmal – sie wandte verwirrt den Kopf und ging zur Thür hinaus.

„Lebewohl!“ sagte er vor sich hin – es ging einen Augenblick eine tiefe Bewegung über sein schönes Gesicht, aber nur einen Augenblick.

„Strich drunter!“ sagte er mit zusammengebissenen Zähnen und ging auf sein Zimmer.


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