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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Menschen wüßten, was sie thun, wenn sie so mit einer starren, unerbittlichen Totenhand in ein lebendiges Leben greifen und es festhalten! Es zuckt und flattert und verkommt im nutzlosen Abarbeiten unter der Fessel. Und dabei dies Heucheln nach außen hin – wie oft, wenn wir so geputzt und lächelnd nebeneinander im Theater sitzen oder in Gesellschaft gehen – wenn wir des Abends gemeinsam in unserem hübschen Zuhause sind und Gäste haben, und die Leute sehen das alles und denken: wie gut haben es die beiden! Ich las einmal in einem Buche das Wort: Und Heuchler sind die Häuser! Wie oft habe ich seitdem doch gedacht, wenn die Wände durchsichtig wären, wenn die Menschen sehen könnten, was in scheinbar friedlichen, heimeligen lampenerhellten Wohnungen, in die mancher Heimatlose abends mit leisem Neid hinein sieht, was da für wilde, grauenvolle Dämonen unsichtbar mit am Tische sitzen! Wie viel lieber würden die, die draußen im Kalten stehen, in den Wald, in das Feld, in die furchtbarste Einöde laufen – als sich dieser unheimlichen Gesellschaft zugesellen!“

Sie schwieg wieder, wie erschöpft.

Er sprach auch eine ganze, lange Weile nicht, ihm war dies wilde Bekenntnis in einer ganz sonderbaren Weise wie Mehltau in die aufblühende Saat seiner Empfindungen gefallen: er fühlte den Jammer, aber er fühlte keine Sympathie dafür.

Es zuckte bitter um ihren Mund. „Er versteht es auch nicht,“ dachte sie in leidenschaftlichem Zorn in sich hinein.

Nach einer geraumen Zeit nahm er wieder das Wort in einem behutsamen, gesellschaftlich verbindlichen Ton, der wie Eis auf ihr glühendes, zuckendes Herz fiel: „Und verzeihen Sie mir eine anscheinend indiskrete Frage: wie kommt es, daß Sie nicht geheiratet haben?“

Sie zuckte die Achseln.

„Als ich ganz jung war, wollte ich, was wir alle wollen – ein himmelstürmendes, besonderes, unglaubliches Märchenglück, und dachte von Tag zu Tag, das müßte für mich noch kommen. Und als ich älter geworden war – das geht ja so schnell! – da kam es nicht mehr. Das ist die einfachste Lösung der Frage. Und aus Ueberdruß an meiner Situation heiraten – ich bin auch schon so weit gewesen – aber das hieße ja nur eine Galeerensklaverei gegen eine andere vertauschen, gegen eine noch schlimmere – vielleicht komme ich auch noch so weit herunter, aber vorläufig bin ich es noch nicht! Seit Jahren ist es jetzt zum erstenmal, daß ich frei war – allein – ich selber! Sie können sich nicht denken, wie ich in diesen Wochen aufgelebt bin, wie ich die Jahre wie einzelne Lasten von den Schultern gleiten fühlte, wie leicht ich gewandert bin! Ich habe mir immer die Augen zugehalten vor der Gewißheit, daß es wieder einmal anders werden muß. Aber das Schicksal hatte eben nur die Kette länger gemacht, es kauerte in einer dunklen Ecke und stellte sich schlafend – und jetzt hat es die Kette wieder angezogen. Der Brief, der Sie heute so stutzig machte, war von meiner Stiefschwester – sie kommt heute noch an, und ich habe nun nichts weiter zu thun, als die Hände hinzuhalten und mir die Fesseln wieder darüber streifen zu lassen.“

Sie verstummte und sah ihn mit großen, erwartungsvollen Augen an, in denen eine tödliche Spannung lag – jetzt mußte er ja sagen: „Komm zu mir – wir wollen die Ketten abschütteln, du sollst jung bleiben!“ – jetzt – jetzt mußte er’s sagen – aber er sagte nichts. Er trat an die offene Thür der Hütte und stand dort in tiefen Gedanken. Er hatte sie während der letzten Minute unverwandt angesehen, mit seinem scharfen, kühlen Kennerblick, vor dem mit einem Mal die Schleier der verblendenden Liebe abgefallen waren – er sah die reinen, aber scharfen Linien des Gesichts, den bitteren herben Zug, und er sagte sich, daß sie alt aussähe und bald alt sein würde – daß er jung und zu den höchsten Ansprüchen in jeder Richtung berechtigt sei – und daß er doch noch vierundzwanzig Stunden überlegen wollte, ehe er das entscheidende Wort spräche – und überlegen, ob er es überhaupt sprechen sollte.

„Alt!“ sagte er plötzlich vor sich hin und erschrak.

Sie hatte nur den Ton seiner Stimme gehört und fragte zitternd und atemlos, wie ein Ertrinkender, dem ein Rettungsruf zu kommen scheint: „Sprachen Sie mit mir?“

„O – ich sagte nichts von Bedeutung,“ erwiderte er und sah wieder stumm in die Weite.

Und während er dastand und kühl prüfend alle Bedenken und Fragen abwog, die ihm die Situation vorführte, währenddessen sagte sich Agnete, die Augen fest auf sein Gesicht geheftet, daß dieser Mensch, der da so groß und schlank an der Thür lehnte, der so hochgehobenen Hauptes in die erfrischte, strahlende Welt sah, als wenn sie ihm zu eigen gehörte – daß dieser eben der einzige Mensch sei, den es für sie auf der Welt gäbe – daß alle anderen und alles andere nur Beiwerk für seine Persönlichkeit bedeute, und daß mit ihm ihr eignes Leben stehe und falle!

Draußen war es inzwischen still und wunderschön geworden.

Das Herbstgewitter hatte ausgetobt, es tröpfelte und rieselte nur noch silbern von den Bäumen, und ganz in der Ferne lohte stummer, flammender Wetterschein, in großen Pausen zuckte hin und wieder noch ein Blitz, wie ein riesiger, blendender Riß in dem Himmelsvorhang, als ließe er eine unaussprechliche Helle ahnen, die dahinter sein müßte.

Eine geraume Zeit verging den beiden in absolutem Schweigen. – Er stand noch immer an der Thür und sah hinaus. Agnete hatte die Augen gedankenlos auf ein Spinngewebe geheftet, das vom Regen mit tausend Tropfen bestäubt war – sie blitzten wie Diamanten in der Sonne. Wer achtete auf die kleine Mücke, die sich in dieser königlichen Pracht zu Tode gequält hatte und nun in den feinen, grauen Fäden eingesponnen hing?

Agnete stand auf, ihr war plötzlich, als könnte sie das nicht mehr sehen, als müßte sie, nicht über ihr eignes Geschick, sondern über das Los des kleinen, bedeutungslosen, ihr gleichgültigen Tierchens da in bittres, bittres Weinen ausbrechen und nie – nie – nie wieder aufhören!

„Und dann würde er ja wohl aus Mitleid“ … dachte sie mit Entsetzen in sich hinein und wollte den Satz auch in Gedanken nicht einmal beenden.

Sie stand auf.

„Das Wetter ist wieder ganz schön,“ sagte sie mit klarer, beherrschter Stimme und trat neben ihn in die offene Thür, „ich glaube, wir können an den Heimweg denken.“

Er wandte rasch und wie erschrocken den Kopf und sah sie mit einem Gemisch zwischen zweifelnder Sorge und Erleichterung an.

„Herrliche Luft!“ sagte er dann in verlegenem, gezwungen leichtem Ton.

Sie stimmte ruhig bei.

Gemeinsam verließen sie die Hütte und traten den Rückweg nach der Pension an. Ein frischer, lebensfroher Wind hatte sich aufgemacht und ließ die Tropfen von den Blättern sprühen – in Agnetens krausem, goldbraunem Haar saßen sie wie funkelnde Juwelen. Die furchtbare Erregung der letzten Stunden ließ ihre Augen in einem tiefen, schwärzlichen Blau aufstrahlen und trieb das Blut in ihr zartes, schmales Gesicht. Sie hatte vielleicht nie so bestrickend ausgesehen – es war der Schwanengesang ihrer Schönheit!

Und diese Schönheit verfehlte ihre Wirkung nicht auf ihn. Wie seine ganze Natur nun einmal war, ließ er sich durch Äußerlichkeiten – durch alles, was seinem erregbaren Wesen entgegenkam oder es abstieß, immer wieder zum Schwanken bringen, und in seinem unbewußten Egoismus gab er jeder dieser Schwankungen nach, unbekümmert darum, wie es auf andre einwirkte.

Er sah sie im Gehen nochmals von der Seite an – immer wieder und immer öfter – sie war bezaubernd, das ließ sich nicht leugnen – es lohnte am Ende doch, ihre Ketten zu zerreißen! Das eine war sicher, daß ihn noch niemand und nichts so zu fesseln verstanden hatte wie dieses Mädchen.

Als sie sich der Pension näherten, fuhr eben an der anderen Seite des Weges der Hotelwagen leer den Bergpfad hinunter – er hatte neue Ankömmlinge gebracht – Agnete wandte sich einen Augenblick zu ihrem Begleiter. „Da ist sie angekommen!“ sagte sie mit gepreßter Stimme und blieb stehen.

Er that ein Gleiches.

„Versuchen Sie es doch noch einmal, ob Sie sich nicht überwinden können,“ sagte er mit einem bittenden, weichen Ton, den sie noch gar nicht von ihm gehört hatte, „gehen Sie ihr jetzt einmal mit freundlichen Gefühlen entgegen – sie ist ja doch ein Mensch wie andre Menschen auch!“

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