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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Gelatine sein müsse, die ich für die heutige süße Speise angeschafft hatte. Das ist denn doch zu arg! Ich eile in voller Wut hinaus und stoße mir an der Thürklinke den Arm blutig, was für Müthchens Schuld gravierend wirkt. „Müthchen –!“

Er ist zu sehr beschäftigt und hört mich nicht. Im Brunnentrog steht eine grüne Gießkanne, die in Onkels Haushalt gehört und gestern völlig neu und tadellos war; heute zeigt sie bedenkliche Beulen, Müthchen wird sie wohl in Behandlung gehabt haben.

Um den Brunnenschwengel, der für ihn viel zu hoch ist, herunterziehen zu können, hat Müthchen eine ebenso einfache wie sinnreiche Einrichtung getroffen. Er hat über den Schwengel einen alten eisernen Radreifen gehängt, und an diesem hängt er selbst, mit hochrotem Köpfchen und weit von sich gestreckten Beinen.

So oft er das Gießkännchen mit großer Kraftanstrengung vollgepumpt hat, spaziert er im Hof umher und begießt sorgsam den Kitt, mit dem die Steinplatten zusammengefügt sind. Schindler folgt ihm in wortloser Bewunderung. Es kommt mir vor, als ob sich hier und da schon einer der schweren Steine zu lockern beginne.

„Müthchen!“ rufe ich noch einmal streng.

Da sieht er mich und kommt schuldbewußt näher.

„Sieh mal, Mutter, wie schön blank der Hof wird!“ Er macht sein lieblichstes Gesicht.

„Ja, du unartiger Junge, ich will dir helfen! Komm ’mal herein – was hast du denn mit dem Klavier angefangen?“

Müthchen brüllt, als hätte er die ihm zugedachten Prügel bereits empfangen.

„Na – wird’s bald?“

Es dauert eine geraume Zeit, bis er, das verkörperte böse Gewissen, neben dem Klavier steht.

„Was ist denn das?“ Ich halte ihm das corpus delicti, in Gestalt eines roten Fetzchens unter die Nase.

„Gelatine,“ antwortet er richtig.

„Und wo hast du’s her?“

„Aus dem Küchenschrank.“

Daß er nicht lügt, ist nun wieder sehr hübsch bei dem kleinen Kerl, mein Zorn ist schon halb verflogen.

„Das sage ich dir, Müthchen, wenn du so ’was noch einmal thust…“

Sein Gesichtchen klärt sich wie mit Zauberschlag auf. Er kennt die Redewendung von dem „einen Mal“ nun schon und weiß, daß er für den Augenblick nichts zu fürchten hat.

Das Weitergießen wird natürlich untersagt und die Bitte, ihm eine eigene Gießkanne zu kaufen, abgeschlagen.

„Das fehlte noch! – –“

Noch ein halb Stündchen angestrengter Arbeit, und die Zimmer sind für den Abend im Stand. Ich übersehe mit frohem Stolz mein Werk, den gedeckten Tisch, der in seinem Blumenschmuck wirklich wunderhübsch aussieht, und die Möbel, auf denen nun kein Stäubchen mehr liegt. Sogar das Klavier habe ich mit viel Mühe und Geduld wieder leistungsfähig gemacht.

Mit einem Seufzer der Erleichterung begrüße ich Frau Bachmann, die Kochfrau, die eben anrückt. Ein Gefühl des Geborgenseins kommt über mich. Elschen muß auch aus der Schule zurück sein: hier liegt ihr Ranzen, dort die gute Plüschjacke, beides recht unordentlich auf die Stühle geworfen. „Elschen!“

Sie kommt aus der Küche gesprungen. Während ich ihr die Backe zum Kuß hinhalte, deute ich streng auf die Sachen: „Wie oft hab’ ich dir das schon gesagt! Ach, Elschen!“ – Als wir zu Tisch gehen wollen, fehlt Müthchen.

Erst nach wiederholtem Rufen kommt er zum Vorschein, und zwar aus dem Waschhaus. Seine Hände sind intensiv blau gefärbt, auch der neue Schulanzug zeigt dunkle Flecken.

„Was hast du …?“ Das Wort bleibt mir in der Kehle stecken, denn eben läuft Terry, unser verflossenes Hündchen, das uns aus alter Anhänglichkeit noch immer besucht, mit eingeklemmtem Schwanz an mir vorüber. Ueber sein Fellchen ziehen sich breite blaue Streifen – Müthchen hat ihn mit Waschbläue angestrichen.

Elschen nimmt den verunzierten Terry, den sie noch immer als ihr besonderes Eigentum betrachtet, weinend auf den Arm und stellt Müthchen verschiedene „Dachteln“ in Aussicht, ich selbst sehe ein, daß er diesmal, da wir ihn auf frischer That ertappt haben, nicht frei ausgehen darf.

Entschlossen greife ich auf meinen Schrank, wo ich für den äußersten Notfall ein Rohrstöckchen liegen habe – „Wo ist der Stock?“ –

Ja, wo ist der Stock? Umsonst taste ich auf dem ganzen Schrank umher, umsonst beteiligt sich der ganze Haushalt am Suchen – der Stock findet sich nicht. Ida hat ihn erst vor ein paar Tagen von Meister Klügling mitgebracht, weil der alte mal wieder verschwunden war, und die Zahl der rätselhaft abhanden gekommenen Rohrstöcke, denen ich im Lauf der Jahre Nachfolger zu geben gezwungen war, ist eine recht ansehnliche.

Müthchen, der allein Auskunft über den Verbleib dieses neuesten und schönsten aller Rohrstöcke hätte geben können, steht mit gesenkten Augen und hofft im stillen, daß der Kelch auch diesmal an ihm vorüber gehe.

Aber das darf nicht sein! Ich muß mich entschließen, den kleinen Sünder mit der Hand durchzuwichsen, was mir erheblich weher thut als ihm und keine nachhaltige Wirkung hinterläßt.

Endlich sitzen wir ziemlich schweigsam um den Tisch, ich mit nervösen Schmerzen und die Kinder verheult. Elschen mault außerdem, weil sie auch einen kleinen Wischer bekommen hat.

Ich habe ihr unzähligemal gesagt, sie solle sich einen vernünftigen Zopf machen, und nun sitzt sie mir wieder gegenüber mit einer sogenannten „modernen“ Frisur, die schauderhaft unordentlich aussieht. „Nun merk dir’s aber,“ sag’ ich ärgerlich, „den Haarbeutel will ich nicht mehr sehen!“

Angesichts des Nachtisches, frische Nüsse und Obst, hellen sich die Mienen wieder auf.

„Mutter,“ sagt Müthchen, der das lyrische Intermezzo dank seiner angeborenen Elasticität längst vergessen hat, „weißt du, wie Frau Ziegenhorn ihren Mann anguckt?“

„Na?“

Er macht ein Gesichtchen, das schmachtende Liebe ausdrücken soll. Wir lachen.

Nach Tisch bleibt Müthchen ein Stündchen lang in der Küche, wo es heute besonders interessant zugeht.

Es giebt verschiedene Schüsseln auszulecken, und Frau Bachmann kratzt sie weniger sparsam aus als ich, die ich immer die Folgen für den nächsten Tag im Auge habe.

Elschen kommt wie ein Stoßvogel geschossen. „Frau Bachmann, Sie haben ihm doch nicht ‚meine‘ gegeben?“

Es stellt sich heraus, daß sie sich die beste „Leckschüssel“ hat heimlich zurückstellen lassen.

„Aber Elschen,“ sag’ ich, „so’n großes Mädchen!“ Davon will sie aber in diesem Falle nichts wissen.

Leider komme ich dahinter, daß Müthchen auch die Creme probiert hat, die zum Abkühlen in der Speisekammer steht. Man sieht deutlich den Druck des kleinen Zeigefingers.

Nun ist seines Bleibens nicht länger in der Küche.

„Hol’ dir Paul Dietrich ein bißchen!“

„Mit Paulen spiel’ ich nicht, der ist immer so schlecht mit mir,“ sagt Müthchen trotzig.

„Dann kann Trudchen Kutzleb kommen!“ Müthchen ist einverstanden, behauptet aber, Ida müßte mitgehen und sie abholen.

„Allein trau’ ich mich nicht, der alte Müller ist immer so bös.“

Ich denke mir seufzend, daß der „alte Müller“, Kutzlebs Hauswirt, wohl seine Gründe haben werde, Müthchen nicht besonders hochzuschätzen, schicke aber Ida, trotz der vielen Arbeit, mit.

Sie kommen unverrichteter Dinge zurück. Trudchen muß erst Schularbeiten machen. Nachher will sie aber kommen.

Am besten wird sein, ich erzähle ihm so lange etwas, dann ist er wenigstens still. So unbändig er sonst ist, sobald ich Geschichten erzähle, rührt er sich nicht, nur seine großen, sprechenden Augen sind voll Leben und spiegeln jede Empfindung, jeden Gedanken getreulich wieder. Die Indianer sind, nächst dem „Buch der Erfindungen“, sein Lieblingsthema.

„Sind sie alle bös, Mutter?“

Ich gebe zu, daß einige gute darunter sein können.

„Wenn sie mir nun hier in der Kräme[1] begegneten?“ fragt er mit einem kleinen wollüstigen Gruseln.

„Nach Frankenhausen kommen sie nicht, Müthchen.“

„Wenn sie nun aber doch kämen, würden sie mich dann fressen? Auch, wenn ich ganz lieb mit ihnen wäre?“

  1. Hauptstraße von Frankenhausen.
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