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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Noch ist Markus Paltram jung, und schon hat das abergläubische Volk der Bergamasken einen Sagenkranz um ihn gewoben:

Oft sitze er stundenlang, das Gewehr über den Knieen, unbeweglich auf einem Stein und denke nach. – Von Zeit zu Zeit suche er den Weg auf den Piz Bernina. Wenn es ihm nicht gelingt, die Spitze zu erreichen, könne er nicht selig werden.

Die oberste Spitze reinen Schnees bringe er dann einer Königin, und darauf werde sie ihn von seinem Camogaskertum erlösen. – In einer bangen, schweren Nacht denkt Cilgia an die Menge Züge, die das Volk von Markus Paltram erzählt.

Und wie Quellen aus dem Erdreich, so steigen holde Liebestage vor ihr auf. Ihre wehen Gedanken flüchten sich in die Zeiten von Pontresina – empor zum Kirchlein Santa Maria – sie denkt an die klingenden Hammerschläge Markus Paltrams – sie denkt an eine wundersame Stunde:

„Sagt, daß ich die oberste Flamme vom unersteiglichen Piz Bernina hole, und ich hole sie und bringe sie Euch in meinen Händen – ich bin stark wie ein Berg – aber Eure Augen müssen auf mir ruhen!“

Ein Wort von ihr beherrscht sein Leben. Sie ist die Königin, von der die Bergamasken fabeln.

In ihren tiefen Gedanken sieht sie zwei Bilder, zwei Männer, zwei Gesichter. Sie sieht ihren blondbärtigen Mann mit den gleichmütigen blauen Augen, mit dem trocknen, geschäftsklugen, auf den nächsten Vorteil bedachten Wesen, den Mann, der Pejder Golzi in die Hände des veltlinischen Gerichts geliefert – sie sieht Markus Paltram, sein dunkles Auge, unter dem ein wallendes Meer von Gedanken und Leidenschaften flutet, den einsam Streifenden, der nicht Frieden findet.

Sie erschrickt – die Linien des blonden Hauptes verblassen und zergehen, die dunklen rätselhaften aber leuchten auf – sie brennen in camogaskerhaftem Glanz.

Cilgia Gruber taumelt auf – sie taumelt an das Lager ihres Buben, sie fährt ihm über die rosigen Wangen.

Und sie beruhigt den erschrockenen Kleinen; an seinem Lager überrascht sie der Morgen, der mit Pfirsichröte an den Schneeflügeln des Piz Palü erglüht.

Und am Abend kommt Sigismund! Was wird sie ihm sagen?

Sie hört es nicht, wie ihr Gesinde über ihre Blässe flüstert.

Scheinbar geht das Tagewerk wie sonst, denn in der Saumhalterei Grubers ist, ob der Meister zu Hause sei oder nicht, die Thätigkeit eines jeden geregelt: die Warenkarawanen kommen und gehen mit dem Schlag der Stunde, die Reisenden, die über die Pässe ziehen, schließen sich ihnen an, und wenn nicht Sturm im Gebirge herrscht, so gleicht der Betrieb des Geschäftes einem Werk, das an Schnüren spielt.

Aber eine schlecht verborgene Unruhe ist heute doch unter Knechten und Mägden.

In Puschlav spricht man von der That Sigismund Grubers. Der reiche Saumhalter hat den armen Hauderer in die Hände des Gerichts geliefert, der folgende Tag trägt die Kunde von Thal zu Thal – und die Rettung Sigismund Grubers durch Pejder Golzi in der Franzosenzeit lebt wieder im Volksgedächtnis auf.

Um so kleinlicher erscheint Grubers That.

Wohlgelaunt und mit einem gemütlichen Lachen kommt Sigismund am späten Abend nach Hause geritten – er sieht nicht, wie blaß sein Weib ist – er erzählt von günstigem Handeln.

„Ich wüßte dir auch ein Geschäft,“ versetzt Cilgia traurig; „wir müssen einen Mann suchen, der für die ihres Ernährers beraubte Haudererfamilie sorgt – ich denke an Melcher! Ja, Sigismund – der Blitz hat in unser Haus geschlagen!“

Langsam dämmert es im Kopf Grubers, daß er zu Campocologno statt eines klugen Streichs, wie er meinte, eine große Thorheit begangen hat. Ein entrüsteter Brief des Pfarrers Taß öffnet ihm die Augen vollends. Aber noch etwas anderes brennt ihn: wie er Lorenzlein auf den Knieen hält, erzählt der Knabe von dem Bären und dem Jäger. „Mit Mütterchen bin ich auf dem Balkon gestanden!“

Das trifft ihn ins Mark. Wenn sie mich noch ein wenig achtete, hätte Cilgia das nicht gethan! – Ja, der Blitz hat in unser Haus geschlagen, und überall grollt das Volk wegen der Gefangennahme des Hauderers!

Zornmütig, finster läßt er die Tage gehen.

„Meister, Ihr müßt Euch etwas zerstreuen,“ mahnt der lange Hitz mit seinem altjungen Galgenvogelgesicht.

Gruber ist fleißiger auf den Pässen unterwegs als je, und er kehrt nicht gern heim. Denn die traurigen Augen, die blassen Wangen seines Weibes quälen ihn. Cilgia spricht ihm zu, aber er versteckt sich, und sie ahnt Unglück.

Eines Tages bringt ihr ein fremder Säumer ein Paket.

„Es kommt von Markus Paltram,“ sagt er und geht – und sie öffnet die seltsame Sendung mit bebenden Fingern.

Da rollt ihr unter den zitternden Händen der Ehering hervor, den sie Sigismund geschenkt hat, er fällt über die Tischkante und klirrt auf dem Boden.

Und sie schreit auf.

In dem geöffneten Paket liegt die schöne goldene Uhr Sigismunds, sein Taschenmesser mit den eingetriebenen Silberarabesken, sein Geldbeutel mit einigen Goldstücken und seine Brieftasche mit Noten – und darum her ein abgebrochenes Gemshorn.

Ist Sigismund tot?

Cilgia steht fassungslos vor den Dingen. – Da sieht sie noch einen versiegelten Brief – sie öffnet ihn.

In kraftvollen Buchstaben schreibt Markus Paltram:

„An die hochzuverehrende Cilgia Premont! – Ihr wünschtet einmal, daß ich nicht schuldbeladen aus den Bergen komme, und Ihr habt einem Unwürdigen zu Puschlav die Ehre erwiesen, daß Ihr vom Balkon auf ihn niedersaht. Darum habe ich Euern Mann, der jagte, ohne ein Recht dazu zu haben, unter vier Augen gewarnt und ihm kein Haar gekrümmt, obgleich ich ihn hasse wie den Tod. Damals trug er ein Gewehr, das zweite Mal überraschte ich ihn mit seinem Knecht vor einer Gemsfalle am Palügletscher. Vor einer Gemsfalle! Meine Jägerpflicht wäre gewesen, beide zu erschießen. Und das Gewehr lag an der Wange – und das Blut war heiß – Ihr kennt mich ja! – Aber ein Wunder begab sich – ein als Camogasker Verschrieener hat den Jähzorn bezähmt – bezähmt wegen einer Frau, die er anbetet in der Einsamkeit der Wildnis – für die er immer noch bereit ist, die Flamme vom Piz Bernina zu holen – die er um ein einziges Wort bittet: ‚Markus, ich vergebe dir!‘

Ich nahm den Wehrlosen am Kragen, ich zeigte ihm von der Höhe des Gletschers Euer Haus, ich sagte ihm: ,Geht dort hin und kniet nieder vor Eurem herrlichen Weib! – und dankt ihm das Leben.‘ Und ich ließ ihn. Da wandte sich der Elende: ,Einer von uns muß doch sterben!‘ Ich hielt mich nicht mehr – ich machte ihn ehrlos. Ich lege die Zeugen in Eure Hand! Mögt Ihr ihm die Ehre wiedergeben, wenn Ihr es für gut findet!“

Der Brief zittert zu sehr in Cilgias Händen, als daß sie ihn hätte fertig lesen können. Sie schwankt zum Schreibtisch – sie zündet eine Kerze an – sie verbrennt ihn – und ob alles an ihr bebt, sie schreibt mit fliegender Feder einen Brief an Sigismund. – Sie siegelt ein frisches Paket – sie ruft Thomas, den vom Vater überkommenen steinalten Knecht.

„Wißt Ihr, wo der Saumhalter ist?“

Der Alte kraut sich im Haar und will mit der Sprache nicht heraus. Erst als er die Seelenangst im Gesicht Cilgias sieht, redet er: „Es ist ein Getuschel und Geflüster unter den Knechten und Mägden, der Saumhalter sei gestern spät, ohne einzutreten, am Haus vorbeigeritten. Er liege krank zu Tirano.“

„Gut. Dann bringt ihm diesen Brief und dieses Paket – ohne Aufsehen. Sagt ihm, ich lasse ihn herzlich grüßen. Doch noch etwas, Thomas: ich möchte den langen Hitz aus dem Hause haben.“

Da leuchtet das Gesicht des guten Alten verständnisvoll auf – und nach einigem Sträuben beichtet er zitternd und zögernd, was er weiß. „Der lange Hitz,“ erzählt er, „geht nie mit den Säumen die Windungen zur Berninahöhe, sondern steigt über die Felsen g’rad’ auf gegen Sassal Masone. Kommen die Tiere dann aber unter ihren Lasten auf den weiten Wegbogen langsam zur Höhe, so wartet er schon bei den Seen – er schiebt eine tote Gemse, die am Weg versteckt liegt, rasch unter die Wachstücher. Ein Gewehr trägt er nicht, und woher er die Tiere hat, weiß niemand recht. Die Knechte reden aber von einem Gatter, in dem er sie fängt, und Wirtshäuser, wo man den Säumern gern ein Grattier brät, giebt’s genug an den Wegen, das Gemsfleisch will

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 751. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0751.jpg&oldid=- (Version vom 3.2.2023)