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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Sigismund hat es gethan ohne zwingende Not – er hätte, ein Geschäft vorschützend, sein Pferd leicht bei Campocologno anhalten können – nur um eines kleinen Vorteils willen hat er es gethan! Sie knirscht vor Zorn über ihren Mann.

Da kommt der kleine Lorenz ins Zimmer gesprungen: „Mutter, Mutter, sie kommen, hörst du die Trompeten? Der Jäger hat den Bären getötet!“ Und sein Gesichtchen glüht vor Freude.

Von fernher tönt die ländliche Musik durch den in den Abend versinkenden Tag und von den Bergwäldern erklingt das sanfte Echo. Die lustige Jägermelodie nähert sich.

Da erhebt sich Cilgia, sie herzt ihren Buben, und in wehem Trotz gegen ihren Mann thut sie, was sie am Morgen noch um ihr Leben nicht gethan hätte: sie stellt sich auf die Altane hinter die blühenden Oleander; den Buben im Arm will sie in einem Anfall von Heimweh nach glücklicheren Tagen Markus Paltram sehen. Da steht sie mit hochwogender Brust.

Den altertümlichen, malerischen Flecken hinab bewegt sich der Triumphzug. Voraus mit geschmückten Hüten die Pfeifer und Bläser. Auf dunklem Tannenreisig, das einen vierspännigen Wagen bedeckt, ruht der tote gewaltige Bär. Hinter diesem Gespann fährt in offener zweispänniger Kalesche Markus Paltram, der Jäger, der Triumphator, das Gewehr über den Knieen – grau wie der Fels ist sein Kleid – düster wie immer blickt er vor sich hin – er ist ein Einsamer mitten unter den Menschen – er übersieht und überhört die Huldigungen der ländlichen Menge, die Tücher und Hüte schwenkend in den Fenstern der altertümlichen Häuser und auf der Straße steht.

Aber etwas Würdiges, Hoheitsvolles, Bezwingendes liegt in der schlichten, kraftvollen Gestalt.

Hinter ihm in offenem Wagen folgt der Gemeinderat in würdigem Sonntagsstaat, die harten Filzhüte auf den scharfgeprägten Köpfen, und das malerische Volk der Bergamasken, das den rauhen Mantel um die Schultern geschlungen hat, schließt das Gepränge.

So naht sich der Zug der Saumhalterei Grubers und die Spitze hat sie schon erreicht.

Da klatscht der kleine Lorenz in die Hände, er zappelt und schreit: „Mutter, Mutter – der Jäger!“

Im gleichen Augenblick hebt Markus Paltram sein wuchtiges Haupt – eine Lohe übergießt sein Gesicht – und mehr erlebt Cilgia nicht. – Sie flüchtet in das Halbdunkel des gegen die Sonne abgesperrten Gemachs – sie bedeckt das vor Scham glühende Angesicht – sie hört es nicht, wie ihr Bube „Mütterchen – Mütterchen!“ bittet.

Sie hat Markus Paltram wiedergesehen, den Mann, der sie in die tiefste Seele beleidigt hat – den Mann, den sie doch nie, nie hat vergessen können!

Traumverloren sitzt sie wie eine Statue da.

Hat auch er sie gesehen? – Hinter den dichten, reichblühenden Oleanderbüschen wohl nicht – aber durch den Schrei des Buben weiß er, daß sie dort gestanden hat. Er hat sie schwach gesehen – darüber ist sie unglücklich.

Die Nacht ist eingesunken, aber es ist nicht die schweigsame Nacht des Gebirgsthales, wo man durch den schmalen Spalt der Wälder die fernen goldenen Sterne über bleiche Gipfel ziehen sieht und die fernen Bergbäche in an- und abschwellenden Tönen rauschen hört: der Qualm von Lichtern und Fackeln steigt über die Dächer des Fleckens und vom Rathausplatz herüber klingen die Geigen und Pfeifen. Das Völklein von Puschlav tanzt Markus Paltram zu Ehren und die Bürger pokulieren.

Was reden die Männer, die droben auf dem Rathaus Becher an Becher stoßen? – O, sie weiß es, sie lassen Markus hoch leben und sie fluchen auf die Missethat Sigismund Grubers.

Cilgia kämpft vor dem Bild Paolo Vergerios und Katharina Diantis. O, wie sie Markus Paltram haßt, wie sie ihn verachtet! – Was ist er? – Ein Jäger, ein Abenteurer wie der gespenstische verrufene Ritter von Guardaval, ein Mann, der sich in sträflicher Selbstherrlichkeit über die Menschen erhebt und hinwegsetzt – der nur in sich selber lebt und unfruchtbar bleibt für das Land – der mit seinen Ansprüchen keine Stätte hätte, lebte im Volk nicht unbewußt die Freude an der Romantik, sähe es den grauen Jäger nicht ebenso gern wie den kreisenden Adler über den weißen Flammen des Gebirges! Ruhelos schweift er mit seinem Stutzen und seinem Wolfshund Malepart. – Was weiß sie von ihm?

In der Bernina hat er eine Gemsenheimat gegründet, wie es keine zweite giebt im Gebirge – da weiden unter seinem Schutz an die Tausende von Grattieren, und er ist ihr Hüter und Herr. – Ja, im Volk verbreitet sich die Sage, er habe sie gezählt, er kenne jedes und habe für jedes einen Namen und einen bestimmten Abschußtag. – Im Rosegthal, im Thale von Bevers und Camogask, am Piz Languard und Mont Pers, an einer Menge Wände des Gebirgs hat er künstliche Salzlecken angelegt und unterhält sie, damit die Tiere gern im Revier weilen: er wildheut im Sonnenbrand an den Felsenplanken und legt in trockenen Höhlen Vorräte an; er trägt den Tieren im Hochwinter, wenn sie Mangel leiden, das Heu zu, daß sie sich sättigen; und die Jagd übt er wie eine Kunst. – Er schießt nie, wenn ihn die Gemsen sehen können. – Ist an einer Stelle des Gebirgs ein Schuß gegangen, dann giebt er dieser Gegend langehin den Frieden, damit die Tiere wieder sorglos werden, und im Rosegthal sind sie so zutraulich gegen ihn, daß sie alle Scheu ablegen, von den Bergen steigen und das Salz aus seiner Hand lecken. Das ist Markus Paltram, der Jäger, und die Bernina ist sein Gemsenparadies.

Ringsum im Gebirge, Tagereisen weit von Pontresina, kennen ihn die Hirten. Er ist bald in den Zernetzer-, bald in den Albulabergen, er durchwandert das Bergell und streift auf den Felsenhöhen zwischen dem Veltlin und der Lombardei, ja, er wandert bis ins Tirol, und nach den Grenzen der Länder und der Jagdrechte fragt er nicht. Er wird auch nicht Frevler; aber mit Schreckschüssen treibt er aus weiter Runde das Wild der Bernina zu. Glühend hassen ihn darum die italienischen und tirolischen Jäger – Hinterhalt an Hinterhalt legen sie ihm in ihren Bergen – er fällt in keinen – erhobenen Hauptes schreitet er wie zum Hohn durch die fremden Dörfer. Aber wehe dem italienischen oder tiroler Jäger, der in die Bernina einbricht – in die gemsenreiche Bernina! – Wenn es sein muß, dann eilt er furchtlos auf schmaler Grasplanke gegen das zum Schuß angelegte Gewehr des Wilderers, und sonderbar: vor seinen Camogaskeraugen sinkt der Stutzen – der Feind, der im Vorteil war, wird wehrlos. Markus Paltram stürzt sich auf ihn, reißt seine Waffe an sich und donnert ihm zu: „Das nächste Mal auf Leben und Tod – jetzt fort, du Halunke!“ Es kommt aber keiner wieder, der Markus Paltram in seiner Wut gesehen hat.

Die Engadiner selbst wissen nicht, sollen sie sich freuen, daß ein so Gewaltiger unter ihnen ist, der für sie die scharfe Wache gegen die fremden Jäger an der Bernina hält?

Oder sollen auch sie Markus Paltram mißtrauen? Heute noch duldet er sie in der Bernina, aber morgen vielleicht wirft er sich zum Alleinherrn der weißen Gipfel auf. Das Volk sagt, er wachse und wachse im Schweigen des Gebirges, aber was in ihm lebt, was unter den schweren Brauen ruht, deutet niemand.

Manchmal steigt aus seiner Düsterkeit ein wilder Uebermut. Die Bergamaskerhirten zittern vor ihm. Oft tritt er mitten in der Nacht in ihre Hütten, er heißt sie aufstehen, den Kienspan anzünden, dann setzt er sich ruhig auf einen Schemel, sagt: „Singt mir ein Lied!“ – „Warum singt ihr nicht?“ fährt er sie an. – Und siehe da, unter dem Blick seiner flammenden Augen beginnen die bebenden Bergamasken ihren Gesang, was ihnen eben einfällt, fromme oder weltliche Lieder, und seltsam genug mögen diese nächtlichen Vorträge sein.

Er aber nimmt aus seinem Murmeltiersack ruhig etwas Roggenbrot, er streicht aus einer Büchse etwas Berghonig darauf und schiebt die Stücke zwischen die blanken Zähne und hört dann eine Weile noch in dumpfem Brüten dem Gesang der Schafhirten zu. Dann verabschiedet er sich mit einem kurzen Dank.

Die Hütten, wo Kinder sind, verschont er mit seinem nächtlichen Besuch – am Tage aber ruht er sich gern bei ihren Spielen aus. Er hat oft kleine Geschenke für sie – er erzählt ihnen, er habe zu Hause auch ein liebes Kind – das lerne eben gehen und sprechen und heiße Jolande.

„Und was thut Ihr mit Euren vielen Gemsen?“ fragen die Kinder.

„Mit denen hausiert meine Frau Pia in den Dörfern des Engadins und verkauft das Pfund zu einem Batzen.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 750. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0750.jpg&oldid=- (Version vom 3.2.2023)