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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

ihrer Brust zur Ruhe gebracht, einen Kampf, von dem niemand als Gott gewußt hat! Vor diesem Kinde hat sich ihr stolzes Herz leicht und mühelos in das Versprechen gebeugt, das sie dem sterbenden alten Gruber gegeben hat, und es ist, als ob aus dem Knaben, der seinen Namen trägt, der Segen ströme, den der Großvater Lorenzchens über sie und Sigismund gesprochen hat.

Einmal freilich hat sie es anders erträumt.

„Ich meine,“ sagte sie einst, von der Landsgemeinde heimreitend, zu Pfarrer Taß, „ich sollte zu einem Mann emporsehen können wie zu einem Berg, und es müßte von ihm Firneschein ausgehen für mich und viele! Dann könnte ich ihn lieben und ihm dienen wie eine Magd.“

Daran denkt sie, während sie im Garten die hängenden Blumen aufbindet und die Raupen von den Bäumchen abliest.

Sie schaut vor sich hin.

Sigismund ist kein solcher Berg; ihm kann sie nicht dienen wie eine Magd. Er ist ein wackerer, aufrechter Mann, die Selbständigkeit, deren er sich seit dem Tode des alten Lorenz erfreut, hat ihn gereift; er führt das Geschäft nach den Grundsätzen strenger Ehrlichkeit und ist geachtet von Mailand bis Innsbruck. Aber im letzten Grund fehlt ihr doch etwas an ihm. Als sie ihm das Jawort gab, war er zufrieden; er fühlte, so oft sie ihn auch dazu reizen wollte, das Bedürfnis nie, ihr Innenleben zu ergründen; er ist eine jener einfachen Naturen, die da glauben, mit dem Ja am Altar sei die Beständigkeit der Liebe für das ganze Leben verbürgt, er weiß nichts davon, daß ein Frauenherz immer frisch gewonnen werden muß. Er spinnt für sie in zu kurzen Fäden.

Und manchmal vermißt sie an ihm eine natürliche Zartheit, jene Zartheit, die zuweilen selbst ein rauher Bergamaskerhirte hat. So heute, als er sie mit einem Wort vor Paltram warnte – wozu an der wehen Vergangenheit rühren? – so namentlich damals, als er von Mals herüber den langen Hitz als Knecht heimbrachte.

Wie hatte es damals nicht in ihrer durch gemeinsame fruchtbare Arbeit gesegneten Ehe von scharfen Worten gestoben!

„Schämst du dich nicht, Sigismund,“ hatte sie ihm mit flammendem Vorwurf gesagt, „den Mann in deinen Dienst zu nehmen, der den großen, schweren Schatten über deine Jugend geworfen und sie vergiftet hat, der, so oft du ihn siehst, dich an unsägliche Schmach erinnert – denkst du nicht, daß der selige Vater sich im Grabe wendet, wenn er den unter unserm Dache weiß?“

Da war Sigismund allerdings wie aus der Befangenheit eines Traumes erwacht.

„Cilgia,“ stotterte er, „du hast recht, er muß wieder fort! Aber jetzt lasse ihn eine Weile – stelle mich vor den Knechten, die auf deinen Zorn aufmerksam geworden sind, nicht bloß.“

Und sie kämpfte den tiefen Schmerz und Zorn nieder, damit niemand im Hause merke, daß zwischen ihr und ihrem Manne ein Zwiespalt sei.

Aber nun ist bald ein Jahr vorüber – der lange Hitz, allerdings bei aller Geneigtheit zu Spaß und dummen Streichen unter den Knechten der tüchtigsten einer, ist noch da, und Sigismund giebt ihm auffällig den Vorzug vor den andern und wird ungehalten, wenn sie ihn leise mahnt, er möchte ihn entlassen.

Doch ist es gerade jetzt ihr besonderer Wunsch, daß der lange Hitz fortgeschafft werde! Die Knechte in der Gesindestube und die Mägde in der Küche flüstern sich Dinge von ihm zu, die ihr nicht gefallen – er ist der Unruhestifter unter den vielen braven, treuen Knechten, die Sigismund vom alten Lorenz übernommen hat, und gerade die redlichsten unter ihnen – das spürt sie – mögen ihn nicht leiden.

Dennoch ist Cilgia nicht unglücklich. Ihr gefällt die lebensvolle Welt, die sie umgiebt, die Saumhalterei, in der sie sich in schöner Ergänzung zu ihrem Manne überaus nützlich bethätigen kann. Sie führt die Bücher, sie schreibt die Briefe an die Geschäftshäuser der Lombardei, der Städte Zürich, Basel, Innsbruck, Bozen, die Bestellungen der Warenfuhren gehen durch ihre Hand, gemeinsam mit Sigismund berät sie Tag um Tag, Woche um Woche, wie die Knechte und die hundertzwanzig Pferde, die in den Stallungen von Puschlav, Tirano, Bormio und Chiavenna stehen, am vorteilhaftesten auf die Straßen zu verteilen sind. Und sie muß nur zu einem Sorge tragen: Sigismund soll das glückliche Gefühl bewahren können, daß er der Herr und Saumhalter ist. Es giebt im Engadin und im Veltlin böse Zungen genug, die behaupten, sie habe eigentlich mit ihrer heimlichen Arbeit das Geschäft zu so großer Blüte gebracht.

Nein, sagt sich Cilgia, es ist gemeinsame treue Arbeit!

Ein Glücksstern steht über dem Haus Gruber. Alles, was in diesen Bergen noch zu säumen ist, fällt ihm zu. Während die Saumhaltereien im Veltlin und Engadin aus Mangel an Aufträgen die Pferde verkaufen und eingehen, weitet sich die ihre – und an Neid auf das stolze Geschäft fehlt es hüben und drüben nicht.

„Für das Engadin war es ein Unglückstag, als Ihr, Frau Cilgia, uns verließet! Ihr hättet eine der unsern werden sollen!“ So hatte der Landammann mit einem bittern Lächeln gesagt, als er kürzlich im Vorüberritt zu einem Gruße vorsprach, der alte feine Herr, der immer noch eine Schwäche für sie hat.

Sie wäre gern Engadinerin geworden – aber nun hat sie das Schicksal an die Seite Sigismund Grubers geführt.

Und im tiefsten Herzen hat sie jetzt nur noch einen großen Wunsch: daß Sigismund sich als Bürger zu Puschlav einkaufe, seinen Sinn über das eigene Geschäft erhebe und sich, wie ihr Vater, in den Angelegenheiten des Gemeinwohls bethätige.

Denn nach ihrer Meinung gehört der Sinn für das öffentliche Leben zu einem ganzen Manne.

Sie träumt – sie ist in ihrem raschen Sinnen die unverwüstliche, in die Wolken bauende Cilgia von ehedem.

Die steigende Sonne äugelt durch die Bäume des Gartens, und die Mutter, selber ein Kind, spielt unter herzlichem Lachen mit dem Kinde, das die sich Versteckende sucht und laut aufjubelt, wenn es sie findet.

Da ist es Cilgia plötzlich, eine schwarze Wetterwolke fahre auf den Garten nieder, und das silberne Lachen erstarrt auf ihren Lippen. Die Mutter Pejder Golzis, das alte, hagere Weib, der wandernde Tod, tritt in den Garten. Die dünnen Haare der Alten fliegen, die Arme fuchteln in die Luft – sie stößt unverständliche Laute der entsetzlichsten Wut hervor.

„Die böse Frau – die böse Frau!“ Der kleine Lorenz rennt vor ihr schreiend zu seinem Mütterchen und birgt sich in ihrem Schoß.

Die Alte aber kreischt: „Daß dein Mann ehrlos sterbe, daß sein Gebein an der Sonne dorre, das gebe der Himmel – daß sein Kind, dein Kind – –“

„Ums Himmels willen, thut meinem Kinde nichts!“ schreit Cilgia erschüttert. – Sie weiß nicht, was ist – sie umschlingt schützend das blonde Haupt des Knaben, sie rafft ihn auf – sie flieht mit ihm vor der wahnsinnigen Alten ins Haus.

Da stellt sich die Wahrsagerin vor die Thüre und schreit ihre Flüche zum Fenster empor, bis der alte Thomas die Rasende mit dem Besen hinwegjagt.

Was ist geschehen? – O, Cilgia erfährt es bald genug.

Vor dem Bilde Katharina Diantis, wohin sie sich immer flüchtet, wenn der Sturm durch ihre Seele geht, schluchzt sie seit Stunden. Was hat Sigismund gethan!

Er kam, als er am Morgen vom Hause ritt, eben an die Grenze des Veltlins in der Thalschlucht von Campocologno, als dort die Zöllner den Wagen Pejder Golzis zu untersuchen sich anschickten. Der Hauderer aber führte Contrebande, und wie er und sein Weib die Absichten der Gendarmen merkten, wollten sie mit einem raschen Ruck den Wagen auf Bündnergebiet zurückziehen. In diesem Augenblick sprengte Sigismund heran und stellte sein Pferd so quer über die Straße, daß der Wagen des Hauderers in der Gewalt der ihn verfolgenden Gendarmen blieb. Die Frau und die Bettelkinder jagten sie über die Grenze zurück, Pejder Golzi aber führten sie gefesselt nach Tirano.

Das ist das Ereignis, weswegen die alte Wahrsagerin den Fluch über das Haus gerufen hat.

„Und er ist ruhig weiter geritten!“ stammelt Cilgia in brennendem Leid, und sie empört sich über Sigismund immer stärker. Sie weiß wohl, warum er es that! Er hat sich bei den Zollbeamten, die ihn und seine Säume selbst nicht immer freundlich behandeln, in Gunst setzen wollen. Aber sie spürt es: was Sigismund gethan, ist ein Unglück. Der reiche Gruber hat den Hauderer, den armen Teufel, der ihm das Leben aus den Händen der Franzosen rettete, ins Unglück gestürzt! Und sie denkt an die acht hungernden Würmer des Hauderers.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 748. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0748.jpg&oldid=- (Version vom 3.2.2023)